Ländliche Räume brauchen aufsuchende Kulturpolitik
In den vergangenen Jahren begleitete ich eine Reihe von ländlichen Kulturprojekten in Brandenburg. Es ging um Vernetzungsstrategien des Museumsverbunds der Gerhart-Hauptmann-Häuser in Erkner, Hiddensee und im benachbarten polnischen Jelenia Góra, um das kleinste Theater Brandenburgs unter der Leitung von Gabriele Koch im alten Feuerwehraus in Börnicke, um die Selbstbeschreibung eines Mehrgenerationen-Kabaretts am Werbellinsee oder um eine Werkstatt für traditionelles Handwerk in Ostbrandenburg.
Staatliche Grundverantwortung
Das Anforderungsspektrum einer ländlichen Aktivierungs- und Ermöglichungspolitik reicht m.E. über aktuelle Diskurse wie Digitalisierung, Breitbandnetzpolitik und temporäre Beteiligungsangebote hinaus. Ermöglichungspolitik – ganz im Sinne von großen kulturpolitischen Vordenkern wie Hilmar Hoffmann und Hermann Glaser – braucht einen Gesellschaftsvertrag für fähige, motivierte Fach-Leute und machbare Ideen in Dörfern, Kommunen und Kreisen der Bundesrepublik Deutschland. Ich finde, zwei Eckpunkte muss man dabei sehen: (1) Subjekte und zivilgesellschaftliche Gruppen wollen und brauchen mehr lokale Steuerungskompetenzen und endlich weniger Bürokratie vor Ort und (2) Kulturpolitik für ländliche Räume ist keine Reparaturwerkstatt gegen Landflucht und Fachkräftemangel, sondern sie muss langfristig staatliche Grundverantwortung für kuratierte Vorhaben und für die materielle und immaterielle Ermutigung von Gruppen und neuen Sozial- und Kulturunternehmen sein. Denn engagierte Gruppen können wesentlich dazu beitragen, Bewohner/-innen eine neue sozialräumliche Bodenhaftung zu ermöglichen.
Ermöglichung
Die Frage, ob es nun mehr um Ermöglichung und oder Aktivierung geht, ist überflüssig und lenkt von unerfüllten Versprechen ab. Vor mehr als einem Jahrzehnt konstatierte der Deutsche Bundestag: „Der ,aktivierende Staat‘ sieht zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen nicht nur den Staat in der Verantwortung, sondern er bezieht – wo immer möglich – die Zivil-/Bürgergesellschaft mit ihren hohen Problemlösungskompetenzen ein.“ […] Und weiter: „Aktivierende Kulturarbeit in ländlichen Regionen macht […] den Wert des kulturellen Lebens und der kulturellen Überlieferung für alle deutlich und fördert die Entwicklung und Vernetzung vorhandener Ressourcen und Strukturen. Dies ist ein kontinuierlicher Prozess.“ (vgl. Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, Deutscher Bundestag, Drucksache 16/7000, 16. Wahlperiode, 12/2007, S. 92 und S.138).
Ende der Dorfromantik
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass für viele ländliche Kulturakteure die alte Unterscheidung zwischen Stadt und Land im Alltag längst unhaltbar ist und ich frage mich zunehmend, was ländliche Kulturpolitik denn sein soll, wenn allenthalben mehr oder weniger, leisere oder lautere Vernetzungen mit städtischen Akteuren gelebt werden. Es geht doch längst um eine Kulturpolitik der Synergien zwischen Stadt und dem so genannten Land.
Es ist auch naiv, zu glauben, dass zum Beispiel Theater und Musik in einem Dorf immer Breitenkultur zu sein haben. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Breitenkulturelles Engagement etwa in Form von Volkstheatern, Posaunenchören und Geschichtswerkstätten sind für ländliche Räume von unermesslichem Wert. Diejenigen Bewohner/-innen, die hier aktiv sind, muss man unbedingt fördern. Es kann aber doch nicht allein um das Ziel gehen, möglichst alle im Dorf müssten immer einbezogen werden, damit der Strukturwandel gelingt und die Gefahr der Peripherisierung schwindet. Kultur für alle ist eben nicht immer Kultur von allen. Demokratiefeinde etwa, die auf dem Land zurzeit nicht wirklich weniger werden, kann man nicht durch kluge EU-Programme mir nichts dir nichts zur Besinnung bringen. Für eine Theaterchefin auf dem Dorf kann es für die nächste Produktion deshalb viel wichtiger sein, eine Dramaturgin aus Berlin oder auch Schwedt ins Boot zu holen. Schluss also mit homogener Land- und Dorfromantik! Wenn es um Qualität von Kunst und Kultur geht, lässt sie sich nicht allein mit strapazierten endogenen Potenzialen und Akteuren vor Ort erbringen. Auch hier sind die Ansprüche gestiegen, gerade hier ist Eigensinn gefragt. Mit anderen Worten: Auch ländliche Kultur-Räume haben ein Anrecht kuratierte Räume sein.
Macher finden
Was mittelfristig seitens des Bundes und der Kommunen besser zu organisieren wäre, ist das Auffinden von Machern, die in ländlichen Räumen aktiv sind und waren. Hier stehen zum Beispiel die Feuerwehren als kommunikative Zugänge und intermediäre Begegnungskonstanten in den Dörfern bzw. Gemeinden ganz weit vorn. Möglichkeiten der Begegnung sind das A und O auf dem Land. Was man sich bei den Feuerwehren abschauen kann, sind zwei für das Ländliche traditionelle Merkmale: Sinnhaftigkeit und Verlässlichkeit.
Eine systematisch aufsuchende Kulturpolitik, etwa auf Kreisebene, ist ein Weg, um konstante Akteursgruppen mit mehr Freiheiten und Rechten an den Tisch zu holen: in Bürgervereinen (z. B. mit dem Zweck für Umnutzungen/Dorfläden/ehemalige Gasthöfe, Bürgerbusse …), Bürgergenossenschaften, („Genossen“ bringen Startkapital ein für Kulturhäuser, Bäder, Scheunen …), Bürgerstiftungen, (Unterstützung sozialen, caritativen Engagements), Bürgerhilfen (Nachbarschaftshilfe, Betreuung Geflüchteter usw.), Bürgerkommunen (Aktive Beteiligung an dörflicher Kommunalpolitik) , Dorfkümmerer (Moderation konkreter Bürgerprojekte).
Vereine
Bodenhaftung in ländlichen Sozialräumen bieten vor allem die Vereine. Vor Ort halten sie auf dem Dorf einen sozialen Wissensspeicher vor, an dem sich eine aufsuchende Kulturpolitik je nach Beschaffenheit und Diskursmächtigkeit einer Vereinslandschaft orientieren kann. Wir wissen, dass das Vereinsleben in ländlichen Räumen eine größere Bedeutung hat als in städtischen¹. Gerhard Henkel zeigt in Rettet das Dorf! , wie die ländlichen Räume den Großstädten hinsichtlich Vereinsdichte und Mitgliederzahlen überlegen sind. Danach kommt mindestens ein Verein auf 100 Landbewohner. Für viele Jugendliche ist es auf dem Lande ganz normal, in mehreren Vereinen gleichzeitig Mitglied zu sein. In der Rangfolge nicht-materieller Werte und Wünsche stehen Vereine an erster Stelle. In letzten 50 Jahren hat sich die Zahl der Vereine bundesweit versiebenfacht. Zwar halte dieser Anstieg an. Damit verbunden sei im Generationenwechsel allerdings auch ein steigender Bedarf an ehrenamtlich tätigen Individuen.
Expertise und Neues fördern
Henkel schätzt die gegenwärtige Zahl der ländlichen Vereine auf mindestens 350 000, „das wären durchschnittlich zehn Vereine pro Dorf“. Die Tendenz ist hier weiter steigend. Im gegenwärtigen Negativdiskurs über ländliche Räume entlang bekannter demografischer Entwicklungsszenarien und Vorannahmen [abgehängt, schlecht versorgt, peripherisiert usw.] gibt es mit und in der Vereinslandschaft immer noch gute Perspektiven und Anschlussmöglichkeiten für eine aufsuchende Kulturpolitik. Noch ist das so. „Die positive Entwicklung der Zahlen von Vereinen und Mitgliedern kann jedoch nicht verdecken, dass seit etwa 10-20 Jahren nicht nur Unsicherheiten und Frust, sondern auch unverkennbare Probleme und Erosionserscheinungen in der dörflichen Vereinswelt zu beobachten sind, die den Bürgern und Politikern in der Brisanz teilweise nicht bekannt sind.“² Hier muss eine aufsuchende ländliche Kulturpolitik ansetzen. Sie muss vor allem die Macher aufsuchen, die Beweger – diejenigen, die für ihre ländlichen Kulturprojekte brennen und die Expertise und Neues zeigen.
—
² Henkel, Gerhard (2016:65): Rettet das Dorf! Was jetzt zu tun ist. München.