Geselligkeit in Anonymität

Künstlerische Offenheit im Verhältnis zu bürgerlicher Öffentlichkeit

Zur Offenheitsideologie gehört, dass Flexibilität und Kreativität in allen Bereichen nicht nur gefeiert, sondern gefordert werden. Manchmal wird der Figur des Künstlers eine Vorreiterrolle in Sachen Offenheits-Lifestyle zugeschrieben: Gesa Foken erwähnt in ihrer Dissertation zur Offenheitsästhetik, dass in manchen Managerseminaren die Teilnehmer zu Flexibilität, Risikobereitschaft und zum Weglassen formeller Zutaten ermutigt werden. Sie werden auf Ungewissheit eingeschworen und ihnen wird erzählt, das seien klassische Eigenschaften eines Künstlers. Möglicherweise sehen Künstler das anders und es verhält es sich wohl eher so, dass die Kunst von der Wirtschaft vereinnahmt wird, nicht umgekehrt. Das ist mein Ausgangspunkt, der einiges über die Beschönigung heutiger Alltagserfordernisse erzählt.

Nun zu einem Autor, der die Figur des Künstlers nicht als Vorbild zur Alltagsbewältigung anpreist, sondern traditionsgemäß unter die Ausnahmen rechnet. Der Ethnologe Victor Turner schrieb Ende der 1960er Jahre, Propheten und Künstler seien tendenziell Schwellen- oder Randfiguren. Turner hatte Rituale unterschiedlicher Kulturen untersucht und beschrieb die liminale Phase im Initiationsritus, in der die Kandidaten vor Erlangung eines neuen gesellschaftlichen Status erst einmal aus all ihren Zusammenhängen herausgelöst werden und in einen sozialen Schwellenzustand kommen, in dem sie sich zwar streng an rituelle Regeln halten müssen, in dem aber viele gesellschaftliche Tabus und Verbote für sie nicht mehr gelten. Über den Zustand der Schwellenpersonen schreibt Turner: „Es ist, als ob sie auf einen einheitlichen Zustand reduziert würden, damit sie neu geformt und mit zusätzlichen Kräften ausgestattet werden können, die sie in die Lage versetzen, mit ihrer neuen Station im Leben fertig zu werden. Untereinander neigen die Neophyten dazu, intensive Kameradschaft und Egalitarismus zu entwickeln. Weltliche Status- oder Rangunterschiede verschwinden. Diese Art von Gemeinschaft bezeichnet Turner als “Communitas“, um einen Terminus zu verwenden, der sie klar vom Bereich des Alltagslebens abgrenzt. Künstler, Mönche und Hippies, so zählt er an anderer Stelle auf, stellen für Turner in dessen eigener Herkunftswelt so etwas wie institutionalisierte Liminalität dar. Das Betonen von Ausnahmen scheint für den Normalbereich unverzichtbar zu sein, gerade um die herrschende Ordnung zu legitimieren und plausibel erscheinen zu lassen.

Gesellschaftliche Ausnahmen müssen traditionell, wie beim schon erwähnten Managementseminar, oft als Projektionsfläche herhalten. Oft für heimlich gehegte Wünsche so wie in der Liedzeile „Lustig ist das Zigeunerleben, brauchen dem Kaiser kein’ Zins zu geben“, oder wenn besonders intensiver Spaß „Heidenspaß“ genannt wird. In solchen Zuschreibungen ist ein Wahrheitsmoment enthalten, weil Projektionen auf wünschenswertes Nichtvorhandenes verweisen können. Interessant wäre die Frage, was mit diesem Wahrheitsmoment passiert, wenn nun die Figur des Künstlers nicht mehr als exotisch, sondern als besonders zeitgemäß und marktgeeignet propagiert und entsprechend zurecht gedeutet wird.

So weit zunächst zu den personifizierten oder institutionellen Ausnahmen. Darüber hinaus gibt es zum gesellschaftlichen Normalfall auch situativ bedingte Ausnahmen, die ebenfalls Verweischarakter haben können. Im öffentlichen Raum (falls es den denn gibt oder noch gibt, was oft bestritten worden ist) treffen Menschen aufeinander, die sich nicht kennen. Wenn sie miteinander reden, sich schriftlich oder mündlich auf dieselbe Sache beziehen, so geht es dabei meistens um Verwaltungs- oder Verkaufsvorgänge. Wenn dabei mehr ausgetauscht wird, als zur Alltagsbewältigung unbedingt sein muss, so ist das auch eine Ausnahme. Geselligkeit braucht Zeit. Bei Wikipedia ist Geselligkeit definiert als: „Von den Zwecken der Alltagsgeschäfte enthobene Grundform des menschlichen Miteinanders und Austauschs (…)“. Es stellt sich hier [ähnlich wie beim Werkbegriff in der Kunst] die Frage nach einem Ort außerhalb ökonomischer Zwänge, den die genannte Geselligkeitsdefinition so selbstverständlich vorauszusetzen scheint. Auffällig ist, dass heutige Werbung viel mit Geselligkeitsbedürfnissen arbeitet, zum Beispiel wenn für Vaporizer als umgebungsfreundlicheren Zigarettenersatz geworben wird mit der Zeile „Endlich wieder Küchenparties“. Aber auch Plakate für herkömmliches Rauchwerk haben, wenn Zigaretten teuer und ungesund sind, das As im Ärmel, ungezwungene Rauchergrüppchen am Strand oder draußen vor dem Club zeigen zu können. Mit dem Argument, dass man als Raucher von allen anderen Rauchern Solidarität erfährt und jederzeit ins Gespräch kommen kann. Einkaufszentren beschreiben ihren Mehrwert mit Sätzen wie „Einkaufen wird erst perfekt durch die Begegnung, die es ermöglicht.

2016 lästerte ein Autor in der ZEIT über etliche Werbemaßnahmen mit der enthaltenen Aufforderung „Feiern Sie mit“. Kommerzielle Kuschelparties werben mit einem Raum, der Aggression und Misstrauen zwischen Menschen vorübergehend aussperren soll. Eine Kommunalpartei namens „Urbanes Freiburg“ wirbt aktuell mit dem Slogan „Öffentliche Räume mit Leben füllen“.

Im Folgenden wird es viel um Ausnahmen gehen und die sogenannte Öffentlichkeit soll auf ihr Geselligkeitspotential hin abgeklopft werden. Zunächst werde ich kurz vorstellen, was verschiedene Autoren unter „Öffentlichkeit“ verstehen. Dabei wird sich bereits ein wenig zeigen, was in den kühnsten Träumen von einer solchen Öffentlichkeit erwartet wird. Als nächstes soll es explizit um gesellschaftliche Ausnahmen gehen, wie sie von Kirchenvätern, Soziologen und Märchen beschworen werden. Schließlich will ich nach dem emanzipatorischen Vermächtnis bürgerlicher Öffentlichkeit suchen und auf die Verwandtschaft zwischen Öffentlichkeits- und Offenheitsideologie zu sprechen kommen.

„Öffentlichkeit“ wurde schon sehr unterschiedlich definiert. Manchmal meint Öffentlichkeit nur den Bereich, der für alle sichtbar ist, so wie wenn der von Sherlock Holmes gesuchte Serienmörder sagt „Das bestmögliche Versteck ist die Öffentlichkeit“. Ebenfalls breite Einsehbarkeit ist gemeint, wenn von medialer Öffentlichkeit die Rede ist. Die FAZ schrieb vor einem Jahr über die Oberbürgermeister-Wahl in Freiburg: „… andererseits weiß heute kein Kommunalpolitiker oder Oberbürgermeister mehr, wie die politische Willensbildung in einer Stadt eigentlich abläuft. Es gibt mindestens zwei Öffentlichkeiten – die bei den unzähligen Podiumsgesprächen und Vorstellungsrunden und die in den sozialen Medien.“

Was von Jürgen Habermas in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ 1962 als bürgerliche Öffentlichkeit bezeichnet wird, hat mit dem gesellschaftlichen Aufstieg des Bürgertums im 18. Jahrhundert zu tun. Oskar Negt und Alexander Kluge beziehen sich dann in ihrem Buch „Öffentlichkeit und Erfahrung“ von 1972 auf Habermas und nennen „Öffentlichkeit“ eine „revolutionäre Kampfparole des Bürgertums“. Bürgerliche Öffentlichkeit ist somit der Gegenbegriff zur repräsentativen Öffentlichkeit der Monarchen und steht in Verbindung mit Kritik durch ein lesendes Publikum, Zugang zu Nachrichten für alle, aber auch mit Orten und Einrichtungen wie Kaffeehäusern, literarischen Salons und Vereinen aller Art. Repräsentative Öffentlichkeit, anfangs Sache des Feudalismus, kehrte in den vergangenen Jahrzehnten laut Habermas in Form von „Öffentlichkeitsarbeit“ zurück. Negt und Kluge nennen das Wort Öffentlichkeit einen „historischen Begriff von bemerkenswerter Schwammigkeit“. Sie sortieren in marxistischer Tradition verschiedene Konzepte von Öffentlichkeit. Zum Beispiel gebe es eine Konstitutionsöffentlichkeit zur Legitimation bürgerlicher Herrschaft, zugleich werde der Schein einer Partizipation aller Gesellschaftsglieder aufrechterhalten, während politische Öffentlichkeit verhindert werden solle. Negt und Kluge betonen, die Öffentlichkeitsideologie diene dem Machterhalt, darüber dürften gewisse „emanzipatorische Nebenerscheinungen“ nicht hinwegtäuschen. Dennoch sehen sie der bürgerlichen Öffentlichkeit den „wirklichen Ausdruck eines fundamentalen gesellschaftlichen Bedürfnisses an.

Richard Sennett kommt in seinem Buch „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ auch auf das 18. Jahrhundert zurück: „Als die Städte größer wurden und sich Strukturen von Geselligkeit entwickelten, die unabhängig von der direkten Kontrolle durch den König waren, nahm auch die Zahl von Orten zu, an denen Fremde einander regelmäßig begegnen konnten“. Sennett beschreibt, dass die Annehmlichkeiten der Stadt, zum Beispiel die Möglichkeit zum Spazieren im Park, nicht mehr nur der Elite zugänglich waren. In bürgerlichen Kreisen war man Sennett zufolge trotz des neuen Einflusses regelrecht verunsichert. „Es wäre auch nicht richtig anzunehmen, der Prozess, in dem ein soziales Band für eine expandierende Großstadt und eine erweiterte bürgerliche Klasse hergestellt wurde, sei schmerzlos und geradlinig verlaufen. Ängstlich waren die Menschen darauf bedacht, neue Formen der Sprache und selbst der Mode zu schaffen, die der neuen städtischen Situation eine Ordnung geben und dieses Leben vom privaten Familien- und Freundeskreis abgrenzen sollten.“ Über die Rolle des Londoner Kaffeehauses im frühen 18. Jahrhundert schreibt er „Um den Fluß der Informationen so offen wie möglich zu halten, wurden alle Rangunterschiede zeitweilig außer Kraft gesetzt; jeder im Kaffeehaus hatte das Recht, jeden anderen anzusprechen, sich an jedem Gespräch zu beteiligen, gleichgültig, ob er die übrigen Teilnehmer kannte oder nicht, ob man ihn zum Sprechen eingeladen hatte oder nicht. Es war unmanierlich, auf die gesellschaftliche Herkunft anderer zu sprechen zu kommen (…).“ Diese Art von Öffentlichkeit könnte Verweischarakter haben [auch wenn Frauen davon ausgeschlossen waren]. Sie könnte auf einen Zustand verweisen, in dem Geselligkeit mehr ist als zweckmäßiger Austausch über Rohstoffpreise oder gegenseitige Bestätigung unter Angehörigen derselben Interessengruppe. Man findet ähnliche Situationen heute, wenn öffentliche Verkehrsmittel ausfallen und alle Reisenden gemeinsam steckenbleiben. Vielleicht findet man sie auch bei Unwettern auf Campingplätzen und bei Geburtsvorbereitungskursen. Diese Öffentlichkeit könnte auf einen Punkt verweisen, von dem aus Macht- und Rangunterschiede in Frage gestellt werden können. Vielleicht ist es gar nicht so gewagt, das sich neu orientierende Bürgertum hier als in einer Art Turnerscher liminaler Phase an der Schwelle zu einem neuen Status befindlich anzusehen.

Dann verdankten die von Negt und Kluge erwähnten emanzipatorischen „Nebeneffekte bürgerlicher Öffentlichkeit“ ihr Wahrheitsmoment einem Überbleibsel aus dem Statuswandel des Bürgertums, einer Phase in der man sich neu orientieren musste und Regeln wie die feudale „Höflichkeit“ zum Teil außer Kraft gesetzt wurden. Wenn man eine solche Phase für das Kaffeehaus-Phänomen verantwortlich macht, ist es auch nicht verwunderlich, dass dieses nicht von Dauer war. Sennett kommt anschließend darauf zu sprechen, wie schon wenige Jahrzehnte später in London die Kaffeehausgespräche von der Geselligkeit der Clubs mit sorgfältig ausgesuchten Mitgliedern abgelöst wurden.

Zunächst aber wieder zurück zu den unterschiedlichen Öffentlichkeits-Konnotationen:

Hannah Arendt schreibt in Vita activa im Zusammenhang mit der von ihr hervorgehobenen Praxis des Sprechens und Handelns über den Öffentlichen Raum. Bei ihr geht es viel um die antike Sorge um Unsterblichkeit. Arendt hebt die Dauerhaftigkeit des „weltlich Gemeinsamen“ hervor, das haltbarer sei als ein Menschenleben. Zu Zeiten des frühen Christentums seien statt dessen das Seelenheil Einzelner und die Nächstenliebe, gewissermaßen als Welt-Ersatz, wenn das Ende der Welt bevorsteht, hervorgehoben worden. Arendt erwähnt eine Textstelle bei Augustinus, in der er von der Nächstenliebe spricht, die selbst Räuberbanden zusammenhalte. Arendt meint dazu zunächst sei es verwunderlich, wenn das christlich politische Prinzip mit einer Räuberbande illustriert werde. Aber die Heiligen seien eigentlich nur zu gut für die Welt, die Räuber zu schlecht, und deshalb müssten sich beide Gruppen von der Welt unabhängige Prinzipien zurechtlegen. Hier sind wir also wieder bei den personifizierten Ausnahmen, gekoppelt mit einer Form von Zusammenhalt. Menschen, die nicht in den Alltag passen, könnten für Umgangsformen förderlich sein, die eben sowenig in den Alltag passen.

Slavoj Žižek erklärte 2012 in einem Interview, Öffentlichkeit gebe es nur durch einen „gemeinsamen Raum, auf den man sich verlassen kann“. Er sieht den öffentlichen Raum verschwinden. „Sogar in einer Menge ist man inzwischen privat und hat sich daher nicht um den Nächsten zu kümmern“.

Žižek meint mit Öffentlichkeit gegenseitige Hilfsbereitschaft zwischen Fremden, aber zum Beispiel auch einen Bücherkanon, dessen Kenntnis man bei anderen voraussetzen kann. Ein solcher würde gerne als politisch inkorrekt dargestellt, wenn er nur Bücher von toten weißen Männern enthalte. Das stelle aber nicht den Kanon als solchen in Frage. Durch die vermeintlich erfreuliche Offenheit ohne eine solche einheitliche Bezugsgröße stecke man „viel mehr im Solipsismus“. Hier ist also ein Hinweis darauf enthalten, dass Offenheit Öffentlichkeit unter Umständen verhindern kann. Darauf wird später noch zurückzukommen sein.

So viel zunächst als unvollständige Übersicht über die Bedeutungen des Wortes „Öffentlichkeit“. An der Stelle des bei Negt und Kluge erwähnten „Ausdruck(s) eines fundamentalen gesellschaftlichen Bedürfnisses“ setzen meine Öffentlichkeits-Überlegungen an. Wenn in der Werbung Geselligkeit beschworen wird, lässt das auf vorhandene Bedürfnisse schließen, die man aufgreift, um Produkte damit zu bewerben.

Dass Geselligkeit im Alltag unerwünscht ist, lässt sich eindrücklich belegen mit den Codes, in denen Arbeitszeugnisse verfasst werden. Wenn der Chef über einen das Unternehmen verlassenden Mitarbeiter schreibt „Mit seiner geselligen Art trug er zu einem guten Betriebsklima bei“, ist das zu übersetzen mit „Achtung, Trinker“. Das sagt einiges darüber, welchen Stellenwert das „von den Zwecken der Alltagsgeschäfte Enthobene“ normalerweise hat.

Werden deshalb separate Orte gebraucht, um es zu legitimieren? Howard Schultz, der Gründer der Kaffee-Kette Starbucks, nennt seine Filialen als Beispiele für einen „third place“, ex negativo definiert als „weder Zuhause, noch Arbeitsplatz“. Schultz nennt den third place einen Ort an dem Menschen „zueinander und zu sich selbst“ finden können. Das hat einen Beigeschmack von Besinnlichkeit. Schultz sagt nicht „Sehen und gesehen werden“, sondern rückt den dritten Ort in eine beinahe spirituelle Richtung. Der Ort, an dem man „zueinander und zu sich selbst“ finden soll, wäre in früheren Zeiten zum Beispiel eine Kirche gewesen. Dass man im Umkreis heiliger Orte unter Fremden wohlwollend und gesellig ist, reicht in älteste Zeiten zurück, als blutige Rituale für Seelenfrieden sorgten, der dann von der zeitlichen auch auf die räumliche Nähe des Kultischen überging. Erste Marktplätze als Versammlungsorte entstanden um heilige Stätten (das ist nachzulesen bei Christoph Türcke). Heute wird dem Markt geopfert. Das verbissene Basteln am Lebenslauf, die Selbstoptimierung ein- schließlich Medikamentenmissbrauch und die Auswahl des Bekanntenkreises orientiert am „sozialen Kapital“ zeigen das. Der Markt ist also von der Neben- zur Hauptsache geworden.

Der „dritte Ort“ soll nun anscheinend eine Räumlichkeit sein, die einen von solchen Zwängen zeitweise entlastet. Denn er liegt ja nicht nur außerhalb der Privat-, sondern auch der Produktionssphäre  und somit abseits des Zwangs zur Marktfähigkeit. Starbucksgründer Howard Schultz weiß selbst, dass das geschäftsmäßige Anbieten eines solchen Ortes nicht möglich ist. Das sagt seine Beschreibung dessen, was man beim Verkaufen tut: „Wir nehmen etwas Gewöhnliches und gießen Gefühle und Sinn hinein“ neben seiner Behauptung „Wir alle hungern nach Gemeinschaft“. Damit spricht er ganz offen an, wie Marketing Bedürfnisse aufgreift. Der ganz normale Kaffee wird also mit Gemeinschaftsgefühl aufgeladen. Dieses ist anscheinend also nicht ohne Weiteres zu haben, so dass man Kunden möglicherweise mit dem In-Aussicht-Stellen eines Ausnahmeortes ködern kann.

Der Ausdruck third place wurde vom Soziologen Ray Oldenburg um 1989 geprägt. Er erwähnt kleine Läden und gemütliche Gaststätten, aber auch Parks und Kirchen sowie zweckentfremdete Orte. Zum Beispiel kann es üblich sein, dass man im Wartebereich bei einem bestimmten Herrenfrisör ein Schwätzchen hält, ohne drankommen zu wollen, oder dass man zur Post geht, um Bekannte zu treffen. Es geht also auch um von der Ökonomie nicht gänzlich erfasste Nischen, um Ausnahmen. Sein Buch „The Great Good Place“ schrieb Oldenburg aber bereits, um vor dem Verschwinden der third places zu warnen. Für ihn weisen solche Orte Merkmale auf wie preisgünstige Verpflegung (vielleicht auch nur einen Trinkbrunnen), fußläufige Entfernung, dass man Stammgäste gemischt mit Unbekannten trifft und dass man dort unabhängig vom sozialen Status mit allen ins Gespräch kommen kann. Ketten wie Starbucks hätten für Oldenburg eher die Rolle des nicht ortsspezifischen, effizienten Störenfrieds, der zwar ortsfremden Besuchern etwas Gewohntes, Immergleiches anbietet, in dessen Filialen die third place-Qualität aber fehle. Oldenburg erwartet von einem third place, dass auch Fremde sich dort zuhause fühlen können und erklärt, dass beim Fehlen solcher Orte sich nicht einmal die im Umkreis Wohnenden zuhause fühlten. Das Merkmal des „Leveling“, die ausgleichende Wirkung des third place auf den sozialen Status, hebt Oldenburg nochmals besonders hervor. Er ist auch überzeugt von einer Bedeutung solcher Orte fürs Politische, findet dass Demokratie ohne informellen menschlichen Umgang nicht möglich sei und dass gemeinsame Entspannungsmöglichkeiten die Grundlage jeder Solidarität seien.

Oldenburg schreibt nicht nur über den third place, sondern spricht auch anderen Stätten die Bezeichnung „place“ ab. An echten Orten, so Oldenburg, sind Menschen Individuum, einzigartig und mit einem Charakter. An Nichtorten sei dagegen der Charakter irrelevant und man sei lediglich der Kunde oder Einkaufende, Klient oder Patient (…).“ Oldenburg betont also eine gewisse Heimeligkeit an „dritten“ Versammlungsorten.

Richard Sennett, dessen Öffentlichkeitsbuch den Untertitel „Die Tyrannei der Intimität“ trägt, hatte dagegen geschrieben: „Die Überzeugung, wahre zwischenmenschliche Beziehungen bestünden in Enthüllungen von Persönlichkeit zu Persönlichkeit, hat auch unser Verständnis für die Zwecke der Stadt verzerrt. Die Stadt ist das Instrument nichtpersonalen Lebens, die Gußform, in der Menschen, Interessen, Geschmacksrichtungen in ihrer ganzen Komplexität und Vielfalt zusammenfließen und gesellschaftlich erfahrbar werden. Die Angst vor der Anonymität zerbricht diese Form.

Oldenburg ist beim Hervorheben der Bedeutung von Orten und Persönlichkeit für seine bevorzugte Form von Öffentlichkeit hochgradig ideologiegefährdet. Später geht er in einem Interview so weit, zu erklären, er sei selbst in einen dieser toten Vororte gezogen und habe sich in seiner Garage einen eigenen third place hergerichtet, an dem sich alle treffen können. Damit ist die Qualität der Offenheit für Fremde dann wohl nebensächlich geworden und man hat eine Art Stammtisch. Allein die Betonung von Anonymität und, wie Sennett über die Londoner Kaffeehäuser und den dortigen Informationsfluss schrieb, „so offen wie möglich“ schafft aber auch keine Öffentlichkeit mit Verweischarakter.

Ein weiterer Blick auf die von Augustinus und Hannah Arendt erwähnten Schwellenwesen soll helfen, die Bedingungen für mögliche Ausnahmen weiter zu beleuchten. Augustinus schreibt vom Nächstenliebe-Zusammenhalt selbst unter Räubern. Die Räuberbande, genau wie eine Bande von Heiligen, lebt außerhalb der nach üblichen Maßstäben verwalteten Welt und braucht eigene Prinzipien. Es ist denkbar, dass durch derartige Selbstgesetzgebung das Heilige ins Kriminelle kippt. Wie zum Beispiel, um beim Christentum zu bleiben, wenn Jesus am Sabbat Kranke heilte. Einen umgekehrten Fall, bei dem das Kriminelle ins Heilige kippt, findet man im Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“.

In diesem Märchen wird ein Junge als Bote für einen Brief eingesetzt, in dem angeordnet wird, er solle bei Ankunft im Schloss des Königs getötet werden. Es ergibt sich, dass der Junge auf seinem Botengang von der Dunkelheit überrascht wird und in einem einsamen Haus im Wald übernachten muss. Nachts kommt die dort wohnende Räuberbande nach Hause und findet den schlafenden Jungen. Weil sie eine Bande von Gesetzesübertretern sind, öffnen sie den Brief des Königs. Hier kippt nun das Kriminelle ins Heilige oder zumindest Engelsgleiche, denn die Räuber lassen den Eindringling schlafen und fälschen den Brief. Der Tötungsbefehl wird getauscht gegen die Anordnung, der Junge sei sofort mit der Königstochter zu verheiraten und so kommt es durch das Eingreifen der Räuber zu einem vorläufigen happy ending (naja, ein Wermutstropfen ist natürlich, dass die Königstochter nicht nach ihrer Meinung gefragt wird …).

Eigentlich ist das Märchen so erzählt, dass dem Zuhörer vor Augen geführt wird, dass nichts und niemand das Schicksal eines „Glückskindes“ verhindern kann. Worin besteht aber dieses Glück? Mit Slavoj Žižek gesprochen gibt es hier, im Märchen, einen gemeinsamen Raum, auf den der Protagonist sich verlassen kann.

Ein solcher Raum hat es unter gegenwärtigen Bedingungen schwer. Das Leben kreist um den Markt als kultischen Mittelpunkt und Konkurrenzdruck-Unruheherd, der einen Steigerungs- und Optimierungswahn erzeugt und keinen beruhigten Bereich zulässt. Somit ist auch ein Interesse an Sorgen und Nöten anderer nicht wahrscheinlich. Öffentlichkeit klingt wie etwas einmal Erworbenes, Selbstverständliches, Allgegenwärtiges. Dabei ist Öffentlichkeit, die diesen Namen verdient, auf Ausnahmen angewiesen.

Bei den Zuständen der Heimeligkeit oder Intimität und andererseits der Anonymität bis hin zur Beliebigkeit berühren sich zwei Gegensätze. Heimeligkeit schafft bornierte Filterblasen, die keine neue Erfindung sind, sondern schon lange Zeit an den Stammtischen blubbern. Öffentlichkeit ist hier in denkbar weiter Ferne. Perfekte Anonymität, da gebe ich Ray Oldenburg recht, lässt aber auch keine Öffentlichkeit mit Verweischarakter entstehen. Andererseits ist Anonymität vielleicht einer Situation vorzuziehen, in der jede Persönlichkeit allen anderen in einer Dauerpräsentation schmackhaft gemacht werden muss. Geschäftiges, effizientes Aneinander-Vorbeileben schafft Beliebigkeit, keine Öffentlichkeit. Keinen „gemeinsamen Raum, auf den man sich verlassen kann“ – und auch dann nicht, wenn das Kaffeearoma vertraut ist und die junge Dame hinterm Tresen die Kunden beim Vornamen aufruft. Das Vermeiden der Stammtisch-Geschlossenheit durch möglichst umfassende Offenheit kann erneut Geschlossenheit erzeugen. Eine Situation undurchdringlicher Fremdheit.

Jeder Mensch ist genaugenommen eine Ausnahme und sollte von anderen als Besonderer oder Besondere wahrgenommen werden können. Andererseits wird Öffentlichkeit mit Verweischarakter auch dadurch unwahrscheinlich, dass, wo Marktgesetze herrschen, jeder Einzelne rund um die Uhr mit „Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache“ beschäftigt ist. Public Relations-Bestrebungen sind ängstlich auf ein angenehmes Image bedacht und damit nicht „den Alltagsgeschäften enthoben“.

Gesellschaftliche Ausnahmen können, wie kommerzielle Kuschelparties, kulturindustrielle Bedeutung haben und das Bestehende stärken, indem einzelnen Menschen eine Pause von privaten Zwängen und dem Selbsterhaltungsdruck in Aussicht gestellt wird. Im besten Fall haben solche Ausnahmen jedoch wie Kunstwerke die Fähigkeit, für etwas nicht Realisierbares, nicht in Begriffe zu Fassendes zu stehen.

Der third place als Ort abseits von Privat- und Produktionssphäre ist keine Antwort, aber eine gute Frage. Vielleicht zeigt er sich als kurzlebiges Phänomen in einer Ausnahmesituation. Er lässt sich nicht als Ort etablieren, aber als Utopie, die hier und da ihre Verweise hat.