Wir brauchen eine neue Aufklärung

Im April trafen wir den Journalisten Dieter Wieland in seinem Heimatort Uffing am Staffelsee. Wieland, häufig als „zorniger Poet“ bezeichnet, empfängt uns alles andere als zornig in seinem liebevoll hergerichteten Bauernhaus am Stadtrand. Ein Haus ist der Spiegel seiner Bewohner, proklamierte er einst in seiner Sendung „Topographie“ des Bayrischen Rundfunks. In seinem Fall trifft das zu. Sein ländliches Idyll zeugt von märchenhafter Natürlichkeit, behutsamer Bauart und der Liebe zum Detail. Für seine Kritik des unbedachten Bauens im ländlichen Raum, der Naturzerstörung und dem Plädoyer für mehr Bewusstsein in der Architektur, erntete er jahrzehntelang Gegenwind. Er blieb standhaft und seiner aufklärerischen Überzeugung treu. Schließlich fand sein Engagement auch in der Politik Gehör, wodurch er maßgeblich für Inhalt und Formulierung des bayrischen Denkmalschutzgesetzes mitverantwortlich wurde. Heute blickt er skeptisch auf sein Schaffen zurück, für dessen Auswirkung auf die Nachhaltigkeit im Natur- und Umwelt- aber auch im Denkmalschutz er sich Grundlegenderes gewünscht hätte. Wieland setzt auf die nächste Generation, die, wie er sagt, mit ganz neuen Mitteln der Kommunikation arbeiten kann. Die Themen, die er im Gespräch eröffnet, finden sich kaum besser zusammengefasst wieder, als in der Rede, die er anlässlich der Verleihung des an ihn verliehenen Lessing-Preises für Kritik im Jahr 2016 hielt. Mit seinem Einverständnis, möchten wir diese Rede wiedergeben und dem zornigen Poeten einen kleinen Resonanzraum eröffnen.

Zuallererst möchte ich mich bei der Lessing-Akademie, bei der Braunschweigischen Stiftung, aber vor allem bei den Damen und Herren der Lessing-Preis-Jury bedanken für die große Ehre, dass Sie mich heute mit diesem wunderbaren Lessing-Preis für Kritik auszeichnen, den Sie achtmal an so großartige Künstler, Wissenschaftler und Philosophen vergeben haben. Heute steht hier zum ersten Mal ein Journalist, noch dazu ein Fernseh-Journalist. Eine Berufsgattung, die im Moment eher durch Quasseln, Kochen, Scharwenzeln und gefällige Hofberichtsplaudereien auffällt.
Von Lessing‘scher Kritik nur Spurenelemente. Die Schöpfer des Lessing-Preises hatten die wunderbare Idee, dem Preisträger die Möglichkeit zu schenken, selbst einen Förderpreis zu vergeben. Ich war schon oft an Jurys beteiligt und weiß, wie schwierig das sein kann, seinen eigenen Wunschkandidaten durchzubringen. Sie geben mir die Möglichkeit, meinen Preisträger ganz allein und in eigener Verantwortung zu wählen. Ich habe gemerkt, ich bräuchte viele Förderpreise. Ich kenne viel zu viele gute Leute, die so ein Lob verdienen. Auch Du bist mir eingefallen, Frieder, Du hast so mutig gekämpft für den Erhalt Deiner Insel Rügen, noch zu Zeiten der DDR und dann in der Goldgräberzeit nach der Wende. Du hast gekämpft als Umweltminister von Mecklenburg-Vorpommern und dann als wertvoller Ombudsmann für alle Bürger, die vor dem Mecklenburger Parlament ihr Anliegen vorbringen wollten. Du hast um die fürstliche Landschaft von Putbus gekämpft und um den herrlichen Schlosspark von Pansevitz. Und als Landrat hast Du gestritten um die göttliche Landschaft der Peene, die Du liebend gern zu einem Nationalpark gemacht hättest. Leider haben sie es Dir vereitelt. Aber ich habe dann doch an meine eigenen schwierigen Zeiten als junger freier Journalist und Familienvater gedacht, wo ich Hilfe dringend gebraucht hätte. Und so habe ich Ihnen heute als meinen Förderpreiskandidaten einen zweiten Journalisten, den großartigen Thies Marsen, quasi als Kuckucksei ins noble Wolfenbüttler Nest gelegt. Aber zu Ihrem Trost, er kommt nicht vom Fernsehen, er ist ein wunderbarer Hörfunk-Journalist.

Sein Thema ist seit Jahren die apokalyptische Geschichte des Nationalsozialismus und sein gedankliches Fortleben nach 1945 in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik. Seit Jahren warnt er in kritischen, sehr exakten Berichten und Recherchen vor einem erneuten Erstarken neonationaler Kräfte und er hat leider recht behalten. Als vereinzelte Vorfälle, wie die Politik das gerne hinstellt, sind die Morde, Anschläge, Waffenarsenale und brennenden Flüchtlingsunterkünfte wirklich nicht mehr zu verharmlosen.

Das ist ein erschreckender Rechtsruck in Deutschland, in Österreich, in Frankreich, Polen, er wird uns in den nächsten Jahren quälend herausfordern. Von nun bald 300 Gerichtstagen beim NSU-Prozess in München kann Thies Marsen sehr viel berichten über die Ohnmacht und die Schwächen und die gewünschte Blindheit von Aufsicht und Kontrollbehörden. Wir brauchen dringend engagierte Journalisten wie ihn, die das aufdecken und aussprechen, die nicht wegschauen vor der Realität. Es könnte sein, dass wir wieder einmal zu spät aufwachen und die Wahlergebnisse über unsere Zukunft entschieden haben. Ich war 1945 erst acht Jahre alt, aber im Krieg mit Sirenen und Luftangriffen, mit Bomben und Toten ist man mit acht Jahren bereits erwachsen. Ich kenne die Wirkung von perfekt gemachter Propaganda und von verlogenen Frontberichten und Siegesmeldungen. Ich weiß noch heute um die Wirkung von Göbbels und Hitlerreden und die pathetische Stimme von Wochenschau- und Nachrichtensprechern. Ich war schon damals ein Radio-Fan. Heute fürchte ich Fahnen und schwarze Uniformen und kahlgeschorene Köpfe und knallende, marschierende Schaftstiefel. Ich finde es schamlos, sich als Montagsdemonstration zu schmücken, sich feige zu bedienen am Mut von Menschen, die vor 25 Jahren das Joch abschütteln wollten. Und es geschafft haben. Wo wart ihr damals? Ich bin in den 60iger Jahren zum Bayerischen Fernsehen gekommen, im Nachhinein ein Goldenes Zeitalter. Das Fernsehen war noch immer neu, blutjung. Vier Programme vielleicht mit ORF, kein Kabel, keine Satellitenschüssel, kein Privatfernsehen, und keine Fernbedienung. Wem ich lästig wurde, der musste schon vom Sofa aufstehen, um ein besseres Programm zu finden. Auch alle, die Fernsehen machten, waren noch irgendwie jungfräulich. Quereinsteiger würde man heute sagen. Man konnte Fernsehen nicht lernen, man musste es machen.
Es war wunderbar, wunderbar frisch und frei. Man konnte probieren, man konnte spielen, phantasieren. Die arrivierten Beamten aus dem Hörfunk waren sich viel zu gut für diesen Wilden Westen. Es gab damals nur Leute im Studio, die Filme und Sendungen machten. Teamwork. Kein Apparat, keine Verwaltung, keine Sitzungsmarathons. Das Fernsehen ist heute eine Bühne der Eitlen geworden. Die Welt wird jeden Tag degradiert zur Selfie-Kulisse, zur Show. Der ernsthafte, kritische, beobachtende Dokumentarfilm mit Stundenlänge, wie ich ihn jahrzehntelang machen durfte, fällt immer mehr aus dem Raster der quotenfixierten Intendanten. Ich kam von der Uni, Geschichte, Kunstgeschichte. Es gab damals beim BR einen wunderbaren Intendanten, Christian Wallenreiter, der kam aus dem bayrischen Kultusministerium und sah im Fernsehen eine Möglichkeit, die Bayern zu bilden.

Ein neuer Bildungskanal entstand. Meine Chance. Ich war kein Journalist. Aber ich hatte bei meinen Lehrern Sehen gelernt, in der Landschaft zu lesen, Altstraßen, Ackerfluren, Dorfgrundrisse, Stadtgrundrisse, Kunst und Architektur. Prof. Hans Sedlmayr schickte uns in die Alte Pinakothek: „Sie schauen sich heute Nachmittag ein Bild an, eine halbe Stunde lang, ein einziges Bild. Und morgen Nachmittag wieder, das gleiche Bild eine halbe Stunde. Und Sie werden staunen, was Sie gestern alles nicht gesehen haben.“
Diese Kunst des Sehens, des genauen Hinschauens, ganz einfach nur die Augen zu öffnen und genau das Gesehene kritisch analysieren, das war mein Grundmotiv warum ich Fernsehfilme gemacht habe. Über 40 Jahre lang. Überzeugen mit der Kraft der genauen Bilder und Texte. Leider bin ich mit meinen Filmen in die dynamischsten Jahre des Wirtschaftswunders hineingeraten, wo alles Alte nichts mehr wert war und nur das Neue noch etwas galt. Wo alle alten Erfahrungen mit einem Schlag weggeworfen wurden, in einer nie dagewesenen bornierten Besserwisserei. Und Geschichte und Kunst und Schönheit und Qualität und Stolz und Identität und Heimat mit dazu, alles Müll. Wo nie Bomben gefallen waren, draußen auf den Dörfern, in den Kleinstädten, da brach eine Abbruchwut ohne gleichen aus. Staatlich subventionierte Förderprogramme wie die Flurbereinigung, oder die total mechanisierte Veränderung der Landwirtschaft, die maschinengerechte Landschaft und die Erschließungswut der Straßen- und Autobahnbauer, solche dramatische und folgenschwere Eingriffe durch Großmaschinen hatte es noch nie zuvor gegeben. Das alte Netz des Lebens der Natur wurde zerrissen, die Trittsteine wie Hecken und Gehölze beseitigt, Lebensräume wurden gelöscht für immer. Fortschritt, Wachstum, Wahlversprechen und am Ende eine Überproduktion, die nur zu Preisverfall führte und zur Schädigung des Grundwassers.
1972 gab mir der wunderbar tolerante Chef des Regionalprogramms, Heinz Böhmler, die Freiheit zu einer neuen Sendereihe „Topographie“, die von Anfang an Veränderungen und Fehlentwicklungen in der bayerischen Landschaft, in den Städten und Dörfern dokumentieren sollte. Nicht polemisch, aber kritisch. Genauso, wie das Hilde Spiel einmal formuliert hat:“ Wenn man es hinnimmt, wie es ist, dann heißt das, dass man sein Land nicht mehr liebt.“ Ich habe immer versucht, Liebe zu wecken und für den Gedanken des Schützens zu werben und wurde zum Ärgernis. Es hagelte Beschwerden aus der bayer. Politik, bis von ganz oben. Eine breite Phalanx von Ministern und Parlamentariern, von Landräten, Bürgermeistern, Rundfunkräten und Bauernverbandspräsidenten, von Flurbereinigung und Rhein-Main-Donau AG, sie wollten mich liebend gern vom Sender verjagen.

Aber jeder Intendant hat mich verteidigt und geschützt, dafür sage ich jedem ewig Dank. Die Freiheit zur freien Rede und zur freien Berichterstattung ist das größte Gut von uns Journalisten, die wir in einer funktionierenden Demokratie leben und arbeiten dürfen. Aber wir müssen auch immer sehr gut sein, je kritischer, um so immer noch besser. 100 % Wissen reichen nicht, du musst 300 % wissen, und es darf dir kein Fehler unterlaufen, war meine Spielregel. Kritik mag der Bayer eigentlich gar nicht. Er will gelobt werden, wie schön alles ist in Bayern. Da ist er unersättlich. Der Ministerpräsident hieß damals Franz Josef Strauß. Gegen seine Lieblingsprojekte Rhein-Main-Donau-Kanal, Altmühltal- und Donauausbau, Bau einer protzigen Staatskanzlei am Münchener Hofgarten ausgerechnet im Bayerischen Fernsehen Kritik vorzubringen, war für einen jungen freien Mitarbeiter eher selbstmörderisch. Eines Tages bekam ich einen Anruf aus der Staatskanzlei, ob ich nicht Lust hätte, für den Ministerpräsidenten Reden zu schreiben. Sie sehen, Bayern ist unberechenbar. Ich habe Nein gesagt. Es war damals eine Zeit der Nachdenklichkeit. Und der Hoffnung auf Veränderung. Die erste Ölkrise hatte einen heilsamen Schock gebracht. War ein Leben ohne Auto überhaupt noch möglich? Waren die Wege zur Arbeit und zurück zum Bett nicht schon viel zu weit? Hatten die aus der Stadt vertriebenen Pendler nicht unverantwortlich das Land zersiedelt? Rücksichtslos Flächen verbaut, die noch zehn, fünfzehn Jahre zuvor der Ernährung gedient hatten? Und was war entstanden? Sogar Architekten, wenn auch nur die kritischen, sprachen damals von verluderter, misshandelter Landschaft. Von Unwirtlichkeit und lustlos produzierten banalen Bauwüsten. Vom Bauen als Umweltzerstörung. Das Europäische Denkmalschutzjahr 1975, die ersten deutschen Denkmalschutzgesetze wurden von der Bevölkerung als längst überfällig begrüßt. So groß war inzwischen der Hunger nach städtebaulicher Qualität, nach urbanem Leben, nach Plätzen und Gassen und Boulevards.
Alles, was die moderne Architektur und Städteplanung verrückterweise nur in Ausnahmen zu geben imstande ist. Woran liegt es? Der berühmte Club of Rome hat es damals 1972 so formuliert: „In unserer Industriegesellschaft scheinen die wichtigsten Dinge diejenigen zu sein, die besonders den wirtschaftlichen Wohlstand fördern, sich also nach unserem Wertsystem besonders bezahlt machen. Dieser Wertmaßstab scheint allein bestimmend für das Saatgut, das wir aussäen, für den Baustil unserer Häuser und die Struktur unserer Städte. Unter anderem resultiert hieraus die denkbar trübsinnigste Einförmigkeit.“

Saatgut und Häuser und Städtebau. Es ist faszinierend, diese drei elementaren Lebensbedürfnisse so eng zu verknüpfen und zu vergleichen. Häuser säen, Städte säen für die Zukunft – das ist ein wunderbares eindringliches Bild. Es gibt der Architektur den Wert und den Rang, den sie eigentlich bräuchte. Sie ist weit mehr als Show und Immobilienmarkt. Sie ist ein Urbedürfnis wie die Nahrung. Wir haben täglich Hunger nach gelungenen guten Räumen. Nach einem geborgenen Zuhause genauso wie nach gelungenen öffentlichen Aussenräumen. Der Hunger nach Qualität – sind wir weiter als vor 40 Jahren? – Das Öl floss bald wieder in Strömen, Luxus war billiger als je zuvor. Am Ende fiel die Mauer. Kritisches Nachdenken war nicht mehr gefragt. Wer Zweifel äußerte am Bauboom im neuen Ostdeutschland, war lästiger Bedenkenträger. Wer davor warnte, dass hier die gleichen Fehler wiederholt würden, wie Jahrzehnte zuvor in der alten Bundesrepublik, wurde ausgepfiffen von Politik und Wirtschaft. Es wurde nicht mit Bedacht geplant, sondern mit Subventionen geklotzt. Discounterketten, Baumärkte, Möbelhäuser, Outlets, alles in amerikanischen Größenordnungen, nagelneue Einfamilienhaus-Wüsten, alles entlang den Autobahnen ausgekippt. Die meisten Altstädte hängen heute noch am Tropf. Ein Ruhmesblatt modernen Städtebaus ist diese einzigartige Chance eines Neubeginns leider nicht geworden. Manchmal zähle ich. Wie alt diese Texte sind, 1972 bis 2016, das sind bald 45 Jahre, der Text aus „Grün kaputt“, den Sie vorhin gehört haben, 1983 – das sind 33 Jahre. Ich bin jetzt 79. Was hat sich getan? Was haben wir erreicht? Für unsere Kinder und Enkel. Für die Zukunft. Tatsächlich haben wir Gesetze bekommen. Die Fehlentwicklungen waren durch uns Journalisten der Öffentlichkeit so deutlich und drastisch vor Augen geführt worden, dass ein Handeln der Parlamente unumgänglich wurde. Wir bekamen gute Gesetze und ich nehme für uns Journalisten in Anspruch, wir haben in der Öffentlichkeit die Akzeptanz vorbereitet, der Weg war frei für die Politik. Die Politiker konnten ernten, wo sie nicht gesät hatten. Aber auch wir waren alle glücklich. Es war geschafft. Naturschutzgesetz, Denkmalschutzgesetz, erste Umweltgesetze. Wir wussten noch nicht, wie sich sofort Heere von Juristen und Lobbyisten und ganze juristische Abteilungen der Großkonzerne daranmachen würden, diese Schutzgesetze zu zerpflücken und ihnen jede Wirkung zu nehmen.

Die Wirtschaft, der Bauernverband, die Bauwirtschaft, zeigten schnell ihre Macht. Behinderung, Gängelei, Enteignung, Bürokratismus, Gefährdung von Arbeitsplätzen. Die Politik knickte ganz schnell ein. Man reagierte auf dem Dienstweg mit Verwaltungsvereinfachung und Beschleunigungsgesetzen. Die Planungshoheit, die Entscheidungshoheit wurde an die Unteren Behörden delegiert, Landrat und Bürgermeister entscheiden. Der zentralen Fachbehörde in München wurden die Zuschussgelder und die Planstellen gekürzt, sie darf beraten, ihr fachlicher Einspruch ist Dekoration.
Wir haben in Bayern seit kurzem einen sogenannten Heimatminister, das ist er im Nebenjob zu seinem Finanzminister-Amt. Ein unglaubliches, unmögliches politisches Schmuckwort in meinen Augen. Heimat – ein Wort, das die Nazis missbraucht und geschändet haben, mit Blut getränkt haben. Ich habe es jahrzehntelang nicht benützt. Jetzt muss es wieder herhalten für die rücksichtslosesten Zerstörungen von Landschaft und Natur. Der Trick – Zielabweichungsverfahren – eine juristische Verwaltungsmogelei von brillanter Schlitzohrigkeit. Ich habe als Staat ein Ziel, ich habe ein Gesetz, das mich verpflichtet, die Landschaft, die Natur, die Tierwelt, die Schutzzone C in den Alpen zu schützen. Aber für ein Gewerbegebiet mitten in der Landschaft oder einen unbedingt gewünschten Skizirkus wird man doch noch eine Ausnahmegenehmigung als Heimatminister durchsetzen können. Ganz ordnungsgemäß mit einem Zielabweichungsverfahren. „Die Natur schützen und nützen“ so hat es vor ein paar Tagen auch der Bayer. Ministerpräsident formuliert. Man wird doch das schöne Bayern noch vermarkten dürfen. Passt diese von der Politik vorgeführte Gleichgültigkeit gegenüber allen Vorschriften und Umweltgesetzen nicht wunderbar zu den schauderhaften Skandalen, die uns in den letzten Wochen noch die letzte Illusion von Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit, von Gesetzestreue und verantwortungsvollem Umweltverhalten geraubt haben? Wenn der Staat schon so trickst und nur nach Gewinn und Rendite schielt, warum soll dann der reiche Bundesbürger nicht auch sein Vermögen für wichtiger halten als die Gesetzestreue und Bürgerpflicht als Steuerzahler? Jährlich gehen dem Staat an nicht gezahlten Steuern schätzungsweise 70 Milliarden verloren. Warum sollen sich deutsche Autohersteller an Umweltgesetze halten, die nur Geld kosten und den Gewinn schmälern? Warum soll ein deutscher Bundeslandwirtschaftsminister das Pflanzengift Glyphosat verbieten, wenn er damit seine treuesten Wähler in der Landwirtschaft vergrault?

Andere EU-Staaten sehen in diesem Herbizid Risiken für die Artenvielfalt und das Tierreich. Für den deutschen Bundeslandwirtschaftsminister ist das leider kein Argument. Es wäre eine Chance, mit der so oft versprochenen Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft Ernst zu machen. Den deutschen Umweltministern bleibt seit Jahren nur die Statistik. Sie zählen und verlängern Jahr für Jahr die Verluste auf den Roten Listen. Schmetterlinge dramatisch rückläufig, bei manchen Arten bis zu 90 %, das Tagpfauenauge z.B., früher ein Allerweltsschmetterling. Die Bienen gehen zurück und fehlen immer mehr bei der Bestäubung. Der Vogelbestand geht zurück, rund um Garmisch-Partenkirchen z. B., ohne jede Industrie, in dreißig Jahren um 30 % weniger, nach exakten Zählungen der Garmischer Vogelschutzwarte. Verluste nur durch intensive Landwirtschaft verursacht. Wiesenblumen gibt es sowieso nur noch in Schutzgebieten. Sonst überall ein viel zu hoher Gülleeintrag. In einem Drittel Bayerns ist das Grundwasser in einem schlechten Zustand, belastet mit Nitrat aus Gülle und mit Pestiziden, deren Einsatz in der Intensivlandwirtschaft von Jahr zu Jahr deutlich steigt. Aber auch das Trinkwasser gehört nicht zum Ressort des Landwirtschaftsministers. Hochgiftiges Uran wird auf bayerischen Wiesen und Äckern in immer höherer Konzentration gemessen, verursacht vom steigenden Einsatz von Phosphatdünger. Aber es ist noch nicht im Grundwasser angekommen, beschwichtigt das Umweltministerium. Man kann sich also noch zurücklehnen. Es wird erst unsere Kinder treffen. Der Waldschadensbericht heißt jetzt Waldzustandsbericht. Nur vier von zehn Bäumen sind gesund, die anderen sechs haben Probleme mit Schädlingen, mit Pilzbefall und der hohen Stickstoffkonzentration im Waldboden. Die Eiche hat zu 40 % massive Schäden. Der Esche geht es noch schlimmer. 9 von 10 Eschen sind
in Bayern vom Eschentriebsterben befallen. So schlechte Nachrichten verkündet der bayrische Landwirtschaftsminister natürlich nur ungern. Kurzerhand hat man die Esche jetzt aus der Statistik herausgenommen. In Bayern sei sie vergleichsweise kein wichtiger Wirtschaftsbaum.
Der Süddeutschen Zeitung ist so eine Schreckensnachricht immerhin noch eine kleine Spalte mit 40 Zeilen wert, andere Redaktionen lassen sie lieber gleich ganz unter den Tisch fallen. Man hat sich gewöhnt an schlechte Umweltnachrichten. Das Erschrecken vor 35 Jahren ist längst routiniertem Wegschauen gewichen. Wir zählen, zählen und zählen.

Aber wo bleiben die Taten? Wo handelt die Politik? Wo handelt die Wirtschaft? Wo handeln wir? Ernsthaft, konsequent. Wir alle? Wir lösen nichts.
Wir schieben hinaus. Auf 2020, 2030, 2050. Nur bitte jetzt nicht, jetzt passt es gerade gar nicht. Der längste Weg auf dieser Welt ist der vom Kopf bis in die Hand. Ernst Ulrich von Weizsäcker sagt:“ Wir brauchen eine neue Aufklärung. Die alte Aufklärung ist zur Verherrlichung des Egoismus verkommen.“ In diesen Momenten hat er auf eine ganz erschreckende Weise Recht bekommen. Das Wort „peanuts“ beschrieb den Realitätsverlust deutscher Großbänker, das Wort „Dieselaffäre“ steht für die Abgehobenheit, die Skrupellosigkeit, die Bedenkenlosigkeit, die Sonnenkönigsmentalität in den Vorstandsetagen von Automobilwerken. Aber es ist wie bei des Kaisers neuen Kleidern, auch der Goldrahmen der Boni lässt die ertappten Halbgötter ziemlich nackt und unfähig aussehen.
Sie fahren einen Weltkonzern an die Wand, vernichten die Gewinne von Jahrzehnten und beschädigen das Renommee von deutscher Industrie und Wertarbeit. Am Ende schicken sie womöglich Tausende, die dafür geschuftet haben, in die Arbeitslosigkeit. Deprimierend ist die totale Missachtung des Umweltschutzes, der Betrug an den Gesetzen, an der Politik, an den Kontrollbehörden, an uns allen. Keine Affäre, ein Skandal. Deprimierend, dass die Amerikaner den Betrug entlarven, nicht wir. Dass der amerikanische Staat den VW Konzern verklagt und Schadenersatz fordert, nicht wir. Dass der amerikanische Käufer entschädigt wird, nicht wir. Deprimierend, dass im gleichen Moment die deutsche Regierung die Entwicklung und den Kauf von Elektro-Autos mit Steuergeldern fördert, die die Konzerne verschlafen haben. Wenn eine so gigantische Industrie noch immer 500 PS Luxusschlitten entwickelt statt kleine, starke Batterien, dann hat sie von der Zukunft und von Umweltschutz noch immer nichts verstanden. Das kann gefährlich werden, es haben schon viele deutsche Konzerne den Anschluss verpasst, weil sie in ihrer Überheblichkeit die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. „Wir brauchen eine neue Aufklärung,“ sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker, „Freiheit und Demokratie müssen auch gegen den Markt geschützt und durchgesetzt werden.“

Wie soll das gehen? – Die deutsche Regierung kniet seit Jahrzehnten vor der Autoindustrie. Sie beschenkt sie mit Steuervergünstigungen, mit Autobahnbau, mit Förderprogrammen statt klarer gesetzlicher Vorgaben. Und um Himmels willen ja kein Tempolimit. Alle Versuche von Brüssel, die deutsche Automobilindustrie zu mehr Umweltschutz zu zwingen, werden seit Jahrzehnten von der deutschen Regierung boykottiert und ausgehebelt.
Die Konsequenzen sind tragische Ausweichmanöver, wie Benzin aus Pflanzen vom Acker, E 10 aus Weizen, Mais und Zuckerrüben und vor allem aus Palmöl.
Shell zerstört den Regenwald auf Sumatra in nie gekanntem Ausmaß und vertreibt die kleinen Bauern in die Armut. Nur damit die deutsche Autoindustrie wieder eine Schonzeit bekommt und bedenkenlos weiterwursteln kann wie bisher. Unsere Freiheit und Demokratie gegen den Markt schützen und durchsetzen. Wer soll es machen? Wir, denke ich, wir Journalisten. Es war nie die Politik, es waren nie die Konzerne in Deutschland, die vorausgegangen sind im Umweltschutz. Und sie schweigen heute noch bei allen Katastrophen. Wir Journalisten sind nicht immer gut, aber gerade in den letzten Wochen legen die Kollegen größte Ehre ein. Wir, die Journalisten, informieren. Wir breiten die Wahrheit aus vor der Öffentlichkeit über den Steuerbetrug der Reichen, die Kapitalflucht an unserem Staat vorbei in Briefkastenverstecke auf fernen Inseln. Wir berichten über die Knebelverträge von TTIP und CETA, wo unsere wenigen Errungenschaften im Umweltschutz wieder von den Großkonzernen der USA zunichte gemacht werden sollen. Verbraucherschutz, der nach langen Jahren nur durch unsere Berichte über Massentierzucht und Lebensmittelskandale der Politik abgerungen wurde.
Die genaue Analyse und Aufdeckung der Verhandlungsstrategie der USA in den drei Jahre lang geheim gehaltenen Verhandlungen für ein Investitions- und Handelsabkommen ist noch einmal ein großartiger Erfolg des freien Journalismus. Die Aufdeckung einer weltweiten skrupellosen Kriminalität von Steuerflüchtigen aus den Panama-Papieren ist eine Glanzleistung des Journalismus. Ein Netz von 400 Journalisten weltweit war an der Aufdeckung dieses Großbetrugs beteiligt, hat dem Skandal Namen und Gesichter gegeben, Konzerne, Politiker, die große Welt der Schönen und Berühmten, der geliebten Helden des Sports, sie sind alle dabei. Wo die Macht wichtiger ist als die Freiheit, da spüren schon etliche Journalisten die Folgen. Nicht die Täter müssen Angst haben, sondern die Aufdecker.

Diese Panama-Papers sind ein grauenhaftes Stück Weltliteratur. Ein großes Lob der Süddeutschen Zeitung, dass sie diesem realistischen Blick in die Welt soviel Raum und Zeit gibt. Ein Lehrstück ohnegleichen. Man darf gespannt sein, ob diesmal die Finanzminister mit mehr als nur mit Absichtserklärungen reagieren. Es sind Wissenschaftler, Umweltverbände und Verbraucherschützer, die unsere Freiheit gegen den Markt und gegen stärkste Lobbys und gegen kurzsichtige Politik analysieren und hinterfragen. Aber durchsetzen zum Erfolg, das können sie nur mit uns, mit uns engagierten, mutigen und unbequemen Journalisten. Wir schaffen die notwendige Öffentlichkeit, wir verschaffen die Mehrheiten, wir sprechen die Sprache, die jeder versteht. Und es müssen so viele wie nur irgend möglich verstehen und mitmachen.
Nur eine Mehrheit wird es schaffen, gegen Markt und Geld, die Freiheit und Demokratie durchzusetzen. Eine neue Aufklärung – das ist das Ziel und ich danke allen, die dazu beitragen wollen.

(Fotos: Philipp Baumgarten)

Redaktion zu Besuch bei Dieter Wieland, April 2019