Räume für Träume

„Das Vorausträumen ist der Zustand von Jugend, der Zustand von Wendezeiten und der Zustand von Kreativität, worin ein neues geschaffen wird, das es bisher noch nicht gab das aber fällig ist, weil es möglich wurde.“ (Ernst Bloch)

 

Wer den Konjunktiv II benutzt, wiederholt entweder indirekt die Aussagen eines anderen, unterstreicht Zweifel an bestimmten Sachverhalten oder aber drückt einen irrealen Wunsch aus. Als sogenannte Möglichkeitsform öffnet er somit vor allem die Pforte für das Unwirkliche in der Sprache: Ich wünschte, wir wollten, würden und hätten gehabt.

Die Ausgangslage der realen Welt ist hinreichend bekannt: Wir konsumieren und produzieren als hätten wir zwei Planeten. Wir besitzen mehr als wir brauchen und werfen zu viel weg. Kriege und Krisen sind nicht neu, aber weniger abschätzbar, als noch vor 50 Jahren. Die allgemeine Katastrophendichte steigt. Was läge da näher als über Alternativen nachzudenken? Also ein „Denken nach vorn“1, aber dabei positiv, gerade wenn die Lebenswirklichkeit eine andere ist.

I have a dream

In seinem Roman „Utopia“ von 1516 skizziert der Humanist Thomas Morus den Entwurf einer scheinbar idealen Gesellschaftsordnung auf einer fiktiven Insel. Seither ist die Utopie (griech. οὐτοπία, utopía ‚Nicht-Ort‘) im intellektuellen Diskurs verankert. Der Begriff ist dabei nicht anthropologisch im Sinne Marc Augés zu verstehen, sondern deutet vielmehr auf einen Ort, den es nicht gibt, einen Wunschort, der ein Gegenbild zur Realität darstellt. Es geht also nicht um die von Leibniz als gottgegeben betrachtete beste aller möglichen Welten, sondern die beste aller denkbaren Welten.
In Morus‘ Utopia leben die Inselbewohner ohne Privateigentums in redlicher Arbeitsamkeit (maximal 6 Stunden täglich). Die Gemeinschaft ist überfamiliär und klosterähnlich, doch säkular organisiert: jeweils 30 Familien ernähren sich gemeinsam. Bewohner von Stadt und Land wechseln alljährlich die Wohnsitze. Beamten sind für ein Jahr gewählt, es herrscht religiöse Toleranz. Die Utopier streben nach Bildung, versorgen alle Kranken und führen ein friedfertiges und einfaches Leben. Mit diesem Phantasieland entwirft Morus dabei zugleich ein verschlüsseltes Reformprogramm, der von ihm kritisierten gesellschaftspolitischen Zustände im damaligen England. Der Roman gibt der Literatur und später auch der Idee des Kommunismus wichtige Impulse. Schnell findet die Utopie neue, einflussreiche Gestalter in der Kunst, Architektur oder im Film. Die Suche nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Gegenwart ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft und daher in jeder kulturellen Ausdrucksform wiederzufinden2. Viele der literarischen Utopien werden schon durch ihre Namensgebung zu Sehsuchtsorten: „Sonneninsel“3, „Grippia“4, „Sforzinda“5, „Sonnenstaat“6, „Neu-Antlantis“7 oder „Oceana“8.

Ideal oder Idiotie?

Gemein ist den Utopien bei der Konzeption idealer Staats-, Wirtschafts-, und Gesellschaftsformen das grundlegende Problem zwischen dem subjektiven Wohlempfinden der Bürger*innen und dem Funktionieren des Gemeinwesens als bestem Staat entscheiden zu müssen. Dort liegt das tragische Element der Utopie: Bei der zumeist langwierigen Umsetzung können sich besten Absichten leicht in ihr Gegenteil verwandeln. Apokalypse, Endzeitszenario, Dystopie!
Utopien gelten zur Zeit ihrer Entstehung als unausführbar, weil sie etwa technisch nicht möglich oder aber von der Machtelite oder Mehrheit nicht gewollt sind. Somit scheint es nicht verwunderlich, dass das Gros der Utopien ihrem Wesen nach auf totalitären Herrschaftsformen gegründet ist, obwohl die gewaltsame Umsetzung utopischer Entwürfe zwangsläufig die gesellschaftliche Situation verschlechtern.

Es wird einmal…

Einschätzen lassen sie sich immer nur aus dem jeweiligen konkreten historischen Kontext. Nachdem die Erde Mitte des 19.Jhds. weitestgehend erkundet ist, richten sich die ‚Nicht-Orte‘ nicht mehr in den Raum, sondern in die Zeit. Die Hauptsorge der vorindustriellen Gesellschaft ist die Verteilungsgerechtigkeit für optimale Versorgung der Bürger mit knappen Gütern und Bewahrung äußeren und inneren Friedens. Statt Stadtmauern aus Marmor, goldgedeckten Paläste und dem Lustgewinn früherer Utopien nun also Gleichheit und Gerechtigkeit. „Was tun?“ fragt daher Tschernyschewski 1863 in seinem frühsozialistischen Roman. Mit Engels Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft von 1880 scheint die Zeit der großen Ideen bereits vorüber. Seither hat sich kein utopischer Systementwurf, der die Grenzen der Wirklichkeit zu überwinden suchte, mehr etablieren können.
Zahlreiche Fortschrittsutopien (etwa „Unsichtbare Städte“9oder „Ökotopia“10) haben sich hingegen mittlerweile bewahrheitet oder wurden übertroffen (z.B. Raumfahrt, Internet, Gentechnik). An anderen, vornehmlich wissenschaftlich-technischen, wird weiterhin mit Hochdruck gearbeitet (künstliche Intelligenz, Cyborg, u.a.). Inwieweit diese Erfindungen einzig einer wünschenswerten Zukunft dienen, bleibt dennoch fraglich.

Ist eine andere Welt möglich?

Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verpflichtet zum Diskurs, wo andernorts für öffentliche Gedankenspiele über Alternativen zum Bestehenden, z.B. in der Einforderung von elementaren Menschenrechten, Gefängnis oder Schlimmeres droht. Der Zukunftsforscher Robert Jungk setzt sich für die Demokratisierung des utopischen Denkens durch die Förderung der Phantasie ein. Er sieht Utopien als politisches Antriebsmittel angesichts gesellschaftlicher Probleme nicht in Passivität und Resignation zu verharren. In den von ihm gegründeten Zukunftswerkstätten, in welchen die von Problemen Betroffenen selbst zu Akteuren ihrer Zukunftsplanung werden, ist der Perspektiven- und Paradigmenwechsel obligatorisch. In diesen Bestrebungen liegt stets die Hoffnung begründet aus einer mündigen Gesellschaft entstünden emanzipierte Zukunftsentwürfe. Wenn diese schon nicht im schwer leistbaren Konsens entwickelt werden, so doch auf der Basis einer möglichst breiten Mehrheit.

Warum? Warum nicht!

Nicht alle verspüren die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Der Leidensdruck der Mehrheit der Gesellschaft kann demnach nicht hoch genug sein. In Mitteleuropa herrscht nun mal seit über 70 Jahren Frieden, die Wirtschaft floriert und sogar die Sonne scheint beständig wie selten zuvor. Alle die nach zeitlosen Idealen wie Gerechtigkeit oder Gleichheit rufen, werden als Träumer oder Sozialisten betitelt. Die Frage ist von wem?
Das Misstrauen der Gesellschaft gegenüber Utopien und Ideologien ist dennoch enorm. In vielen Köpfen ist die Erfahrung des Zusammenbruchs des Kommunismus noch zu frisch. Außerdem stehen wir andächtig und ohnmächtig vor einem „System“, das als alternativlos beworben wird.
Dennoch scheint vielen bereits die Vorstellung einer besseren Welt schwer zufallen und das „Noch Nicht“, das im „Nicht“11enthalten ist, anzuerkennen. Es scheint überfällig dem mythischen und kollektiv erzählten „Früher war alles besser“ etwas entgegenzustellen. Was wäre da geeigneter als eine Utopie als bewusste individuelle Schöpfung?
Es erfordert wiederum Initiative, nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung zu werden. In unserer datenbasierten Wachstumsgesellschaft kann ein Utopieentwurf pragmatisch wirken, indem er individuell und präzise versucht aus den Problemen etwas Brauchbares zu machen. Als „Kurzeittherapie akuter Probleme“12 bearbeiteten Utopien somit keine globale Problemlösungsstrategien. Abhilfe in Häppchen!
In der Architektur, die bestenfalls beabsichtigt mit einer idealen Stadtarchitektur eine ideale Gemeinschaft möglich zu machen, können junge Utopien „schmerzhaft, schnell wirkend, und falls die Behandlung greift, sogar anhaltend“13 sein. Gesamtgesellschaftlich bedarf es jedoch Modelle, die Resonanz ermöglichen. Die vielleicht (vorerst) nicht umsetzbar, aber doch argumentierbar sind. Visionen waren früher oftmals ein gefährliches Gut. Heute wird niemand mehr mit Visionen zum Arzt geschickt. Die Behandlung von Phantasie ist nun mal keine Kassenleistung.

Wir müssen reden

Für eine funktionierende Demokratie braucht es öffentliche Räume. Wenn man die kollektive Mobilität und die individuelle Bereitschaft steigerte, könnten Orte des Zusammentreffens geschaffen werden, um dort im Diskurs wiederum Gedankenräume zu öffnen und zu erweitern. Menschen würden sich als Bürger*innen begegnen und nicht als Wirtschaftswesen. Dort würde konkret und konstruktiv gestritten und in Frage gestellt: Kooperation? Grundeinkommen? Teilen statt Gier? Wie wollen wir leben?
Nicht zu vergessen: Neben Wünschen oder irrealen Bedingungen dient der Konjunktiv II ebenfalls als Höflichkeitsform. Könnten wir bitte anfangen zu träumen?!

1 Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1978
2 ebds.
3 Jambulos, 3.Jhd.
4 Herzog Ernst, 13.Jhd.
5 Filarete, 1464
6 Tommaso Campanella, 1604
7 Francis Bacon, 1627
8 James Harrington, 1656
9 Italo Calvino, 1972
10 Ernest Callenbach, 1974
11 Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1978
12 https://derstandard.at/2000071798148/Utopia-revisited-Warum-wir-heute-wieder-Utopien-brauchen. abgerufen am 12.08.18
13 ebds.

 

Dieser Aufforderung folgen hunderte Menschen bereits in der kommenden Woche auf der ersten Utopie-Konferenz der Lüneburger Universität.

 

Seiner Zeit mal wieder voraus: Zeitz!

Die nunmehr IV. Zeitzer Pecha Kucha Night zum Thema UTOPIE fand am Donnerstag, 16.08.2018, um 19 Uhr im Rathaus Zeitz statt:

 

Review auf ZeitzOnline: