STÜMPFE

Stümpfe oder Die Summe aller Stimmen ist Teil eines abgeschlossenen und unveröffentlichten Erzählbandes. Der Text erscheint in Auszügen mit freundlicher Genehmigung des Autors.

     Ich komme durch die Felder, durch die menschenleeren Dörfer, durch das stillgelegte Industriegebiet, zurück in diese Stadt. Das hündische daran, die Unterwürfigkeit, die vollmundige Furcht, lange bevor der Zug am Bahnsteig hält. Darin liegt der Ursprung. Der Weg zu letzten Plattenbauten, die wie Zahnruinen aus dem Eingestürzten Zahnfleisch dieser Siedlung ragen; darin noch immer Menschen. Seit ich mich erinnern kann, gehen hier die Kinder und die Kindeskinder geschlossen vor die Hunde. Als ich noch regelmäßig her kam um meine Mutter zu besuchen,

war ich mir sicher gewesen, dass mir die Rache derer, die hier geblieben waren, ganz unmittelbar bevor stand. Die skelettierten Überreste eines Schaufelbaggers, dort, wo früher der Konsum stand. Der Rückbau wurde abgesagt oder verschoben, ist irgendwo versandet. In einer Sommernacht des Jahres neunzehnhunertsechsundneunzig zündeten drei Jungen aus der Siedlung hier einen Obdachlosen an. In den Mundwinkeln und Nasenlöchern bildet der Staub eine feste, graue Kruste.

Die Ursprünge des Staubs.

Straßendreck, Fassadenschutt, Asbestüberbleibsel, zersetzter Straßenkot, Batzen kleingeistiger Utopie, verklumpte Auspuffgase, alles mit Ausdünstungen angereichert, Talk und Fett und Schuppenflechte, Halbverdautes, Hochgewürgtes, Körperüberschüße, Fingernageldreck.

Das ausgespuckte Leben.

Das zum Fossil erstarrte Blut des Mondes.

 

Die  Überschüsse des Erinnerns.

Zum Beispiel löslicher Kaffee. Und Bier und Handcreme.

Papier und Kölnisch Wasser und Rotwein und Tomatensoße.

Das Rasierwasser der Männer, niemals gleich und nie verschieden.

Sie roch nach schlechten Zähnen und der Wut auf meinen Vater, überhaupt nach Wut, nach Zärtlichkeit und Schweiß und Tränen.

Sie roch nach ihrer Hände Arbeit, nach dem Inneren des Wandschranks, nach einer Straßenbahn im Winter,

nach Wundheilung und Schorf und Kirschen aus dem Einmachglas.

Sie roch nach einer Fernbedienung und nie nach Zigaretten.

Sie roch nach Schierker Feuerstein.

Sie roch nach ihren Kleidern.

Keines ihrer Kleidungsstücke riecht heute noch nach ihr.

    Dort steht meine Schule. Auch hier haben die Bagger angefangen die nördliche Fassade einzureissen, aus einem mir nicht bekannten Grund die Arbeit eingestellt und sind bis heute nicht zurückgekehrt. Umgekippte Bauzäune, die Fenster sind vernagelt, doch die Bretter hängen lose. Der Abdruck einer Tafel an der Wand. Das Linoleum wurde herausgerissen, sonst könnte man vielleicht noch sehen, wo die Tische standen, wo die gummierten Stuhlbeine sich eingegraben haben unter unserem Gewicht, in diesem leicht zu reinigenden Fußbodenbelag, von dem im Sommer ein Gestank ausging, der fast so schlimm und giftig war, wie die Ausdünstungen unserer ungepflegten, vor sich hin Wuchernden Leiber. Graffiti an den Wänden, wie mit Höhlenmalerei.

Hakenkreuze, Namenszüge, unsinnige Chiffren, bedeutungslos selbst denen, die sie einst erdachten. Unter dem teilweise eingestürzten Flachdach nisten Tauben. Im Keller fressen Ratten den jeweils schwächsten Teil des Wurfs. Der kleine Anbau, in dem die Schulspeisungen stattfanden, die Einschulungen und Jugendweihen, wurde vollständig entfernt. Mein Fuß tritt letzte Fundamente um, stößt auf Relikte aus der Zeit der Troglodyten: ein Stück Kreide, die gesplitterte Klinge eines Messers und eine Kugelschreibermine. Das Bellen eines Hundes in der Ferne klingt für einen Augenblick nach einer Pausenglocke; Der Verkündung einer Endzeit, deren Ausgang nicht in Sicht ist.

Es war auch in einem Sommer, als die Lehrerin Lena dabei ertappte, wie sie, anstatt zuzuhören, Gedichte in ein Heft schrieb. Die Lehrerin nahm ihr das Heft weg und las laut daraus vor. Lena kaum darauf hin nicht mehr zur Schule. Was aus ihr geworden ist, entzieht sich meiner Kenntnis.

 

     Hoch über der Siedlung, den Blick immer auf die Stadt gerichtet, auf das was wir dafür hielten, waren die Dächer der zwei Zwölfgeschosser unser geheiligtes Terrain. Gefechtsstände und Tempel, Barrikaden und Altäre. Die lustvolle Unterwerfung unter den Stärkeren, ein Fest der Abwesenheit elterlicher Ordnung. Erst Zungenküsse, warm und nass und weich. Die Hand eines mir kaum bekannten Jungen umschloss die Wurzel meines Gliedes. Das Liebesspiel der Kleingemachten, im Licht der schönen Peiniger.

Körpertausch in unnützen Behausungen, in denen noch immer Möbel standen, hier zurückgelassen von denen, die unseren Erzeugern an Glück und an Verstand eindeutig überlegen waren. Du bist ich und ich bin du und ich liebte einen Jungen zwischen den Trümmern einer Schrankwand, von uns so hingeworfen, dass sie unseren Körpern glichen. Dort liebte ich auch ein Mädchen und noch einmal einen Jungen und danach liebte ich nie wieder, nie mehr in dieser Siedlung, nie mehr in dieser Stadt.

 

     Zehn Stück der kleinen Plastikkugeln aus den Patronen unserer Füller bildeten den Gegenwert eines Kaugummis und ein Glitzersticker wurde gegen zehn normale ausgetauscht und ich tauschte meine Alf-Kassette gegen ein braunes Plastikpferd, das mir die Hortnerin noch am selben Nachmittag wegnahm und meine Mutter darauf ansprach, weil das Pferd von Barbie war und es ungesund für Jungen ist, mit so etwas zu spielen.

Der Flug der Vorstadttauben, die, als wären sie verabredet, zu Dutzenden aus einem Loch in der Fassade brechen, einem Schwarm Fledermäuse gleich, als habe sie etwas gestört, ein Teil von mir womöglich, der in diesen Mauern immer noch nach seiner Federmappe sucht, gestattet nur noch eine Lesart: Alle Tage sind gezählt.

Ich ignoriere es und mache mich wieder auf den Weg.

     Wir waren Gier und Langeweile. Zwischen zwei Ausgaben der Praline bewegten wir uns kontrahierend, winzige Metastasen, pochend, wie eine Nagelbettentzündung, wie blasse, ungeschickte Finger auf einer Läuseleiter. Die Mädchen hatten Pferdeschwänze, die Jungen hatten Glatzen, oder Inseln oder einen schmalen Streifen Haar. Am Stirnansatz, dem Haarschnitt irgendeines Fußballspielers nachempfunden. Die Jungen trugen schwere Jacken, in Grün oder in Grau. Die Jungen und die Mädchen trugen Räuberhosen und weite, verwaschene Pullover und die Mädchen trugen T-Shirts ihrer Lieblings-Boybands und Tops mit Spagettiträgern, die ihre weichen, weißen Bäuche offenbarten. Die Mädchen hörten Take That oder die Spice Girls und die Jungen trugen weiße Shirts auf denen Landser stand, die hatten sie von ihren großen Brüdern. Die Jungen trugen Pullover einer Boxermarke und darüber schwere Jacken, in Grün oder in Grau.

     Die Mädchen trugen bunte Zopfgummies und Armbänder aus Zuckerperlen und ich leckte Brausepulver aus dem Nabel eines Kindes, das viel jünger war als ich und wusste dabei nicht, dass ich einmal ein Buch lesen und danach nicht mehr sicher sein werde, ob das wirklich geschehen ist, und weiß auch nicht mehr wie der Junge hieß und nicht wonach das Pulver schmeckte. Die Mädchen trugen Blaue Flecken und aufgeschürfte Knie wie Orden vor sich her und ich kratzte den Schorf vom Knie eines Mädchens aus dem Nachbarblock und steckte ihn mir in den Mund und am Bauch habe ich eine lange, dünne Narbe, die kaum noch zu erkennen ist, da wo ein Junge mich mit seinem Messer ritzte, um an mir zu testen, ob es auch scharf genug für die Kanaken sei.

Der Eintritt in die Fleischlichkeit ist stets ein Vorgang der Gewalt.

 

Die kümmerlichen Überbleibsel.

     Klingelschilder, der Geschmack von roter Soße und das aufgewühlte Erdwerk. Es gibt hier nichts mehr zu betreten. Und doch leben noch Menschen hier. Eine letzte Straßenbahn wälzt sich voran. Ein leerer Kinderwagen steht mit eingedrückten Achsen vor einer blinden Litfaßsäule. Meine Mutter erzählte mir einmal davon, dass man die Kinderwagen samt der Kinder einfach vor dem Konsum stehen ließ. Nach der Wende hätten die Mütter damit aufgehört, weil ein Säugling von einer Ratte angefallen worden sei. Als ich einmal von der Schule heim lief, kam mir eine Frau entgegen, die einen Kinderwagen schob. Plötzlich, schon fast mit mir auf gleicher Höhe, blieb sie stehen, beugte sich über den Wagen und begann das Kind zu rufen. Als ich an ihr vorbei ging, hatte sie das leblose Geschöpf vor ihr Gesicht gehoben, rief immer lauter seinen Namen und drückte es schließlich an ihre Brust. Ich machte, dass ich heim kam.

Auf der Fahrt hierher träumte ich davon, wie hundert tote Mütter ihre Hände in die Dämmerung erheben, ihre Fingerspitzen aneinander reiben, nacheinander ihre völlig kahlen Schädel in ein mit Urin gefülltes Taufbecken eintauchen und dabei miteinander in einer für mich fremden Sprache sprechen, so dass es klingt, als schabten unzählige Insekten ihre Flügelplatten aneinander, vielleicht ein Schwarm Marienkäfer, auf seinem letzten Halt, bevor das Meer beginnt. Ich erwachte und bereute, der Frau die in der letzten Nacht bei mir geschlafen hatte, nicht geantwortet zu haben, als sie wissen wollte, wohin genau ich fahre.

    Die Stimme meiner Mutter fährt mir in den Nacken. Die Stimme meiner Lehrerin hallt durch den leeren Gang. Die Stimme meines Freundes, den die Nachbarn Russki nannten, fällt mir nicht mehr ein. Die Stimme von Bianca Mayer ist die erste Stimme, die mir wegen ihrer Schönheit auffällt. Die Stimmen einer Gruppe Männer, die grölend durch die Straßen ziehen, weckt mich auf und lässt mich weinen. Die Stimme von Frau Jäckel klingt wie die einer grausamen Sibylle. Die Stimme eines Hundes, der keine Stimme hat und die Stimme eines langhaarigen Sängers auf dem Marktplatz in der Innenstadt. Die Stimme meiner Mutter, als ihre Hand mir in den Nacken fährt und sich darin vergräbt, als sie mich dabei ertappt, wie ich mit einem Steinchen Hakenkreuze in den schmalen Streifen Erde ritzte, zwischen der Schaukel und dem Karussell.

Die Stimme der Schaukel und die des Karussells klingen wie Frau Jäckel, und erinnern mich an sie, auch dann noch, wenn wir nur noch auf den Spielplatz gehen um dort heimlich zu rauchen. Die Stimme der Frauen, die mir gefallen, gefallen mir deshalb, weil sie wie meine Mutter klingen, wie die Stimme meiner Mutter, wenn sie nicht so klang, als gehörte sie zu ihr. Die Stimme von Sebastian, der gestorben ist, weil jemand ihn vor einen Zug gestoßen hat, ist mir plötzlich wieder gegenwärtig. Das Weinen einer Frau, der Sebastian einen Fußball ins Gesicht schießt, weil sie nicht von der Bank aufstehen will, auf der wir immer nach dem Bolzen sitzen, klingt wie die Stimme meiner Mutter, wenn sie genau so klingt, als gehörte sie zu ihr. Die Stimme eines skelettierten Baggers, den ein Tritt zum Singen bringt, ist die Summe aller Stimmen, die hier zwischen den Plattenbauten auf ewig zu mir sprechen.