Auf der Suche nach dem guten Leben irgendwo zwischen Schkölen und der A9

Von Anna Friedrich;

Wo ist man eigentlich, wenn man in dem ehemaligen Gebiet der DDR ist? Wo bringt man sich unter? Es gibt (Groß-)Städte, an denen sich Intellektuelle, junge, politisch Aktive und Kulturschaffende festhalten; Ballungszentren, in denen die Diskurse kreisen, die öffentliche Orte von Vielfalt beherbergen, und: die Netzwerke aus öffentlichen Verkehrsmitteln ihr eigen nennen. Dann gibt es die Kleinstädte, mit ihrer Beschaulichkeit, ihren Hinterhofleichen und jener merkwürdigen Mischung aus trügerischer Stille und Einfamilienhauslärm. Verstreut in der Landschaft liegen auch die Dörfer, oftmals grau-braune Häufchen, denen die Jugend und fast alle Treffpunkte zum Erleben der Dorfgemeinschaft abhanden gekommen sind. Die freiwillige Feuerwehr lebt und stellt Bierbänke auf zu gegebenen Anlässen. Geprägt vom Alltag der Alt- Gewordenen und unter Umständen des ein oder anderen Nachwuchs-Glücks oder DDR-Traumas. Dazwischen irgendwo liegen die hochglänzend fotografierten Touristenrouten, ganz automatisch durch den Gang der Geschichte als solche angelegt, oder aber durch Förderprogramme der deutschen Regierung zu haltbaren Einnahmequellen gemacht. Flussläufe mit Burgen, an denen im Sommer die Ferngäste entlang pilgern wie eine Horde lüsterner Feuerwanzen.

Und dann gibt es noch diese Gegenden irgendwo im Abseits die man allzu leicht übersieht. Landstriche, die „Leute aus der Stadt“ nicht wahrnehmen, es sei denn sie müssen für einen Job mitten durch die Provinz fahren, oder verirren sich, weil dem Handyakku der Saft ausgegangen ist.

Gegenden, die der Dynamik und dem Sog des Städtischen abhanden gekommen sind und irgendwo hinter der einen oder anderen Hügelkette ein ungeahntes Dasein fristen. Mitunter beherbergen diese Gefilde ansehnliche Landschaften, oder verkommenes Erbe alter Bauernfamilien – oder doch einfach nur karge Agrarwüsten, die auch aus einem UDSSR -Science-Fiction – Film stammen könnten.

In diesen Gegenden ist schon manches alte Gemäuer vergessen worden. Manchmal schlafen die Gebäude in einer solchen Gegend ein; schlummern, modern und rosten vor sich hin. Manche wurden beweint und dann doch sich selbst und schließlich der Zeit überlassen… (Irgendwo habe ich gelesen „Entweder es fehlt das Geld, oder es fehlt der Teufel und seine Großmutter“).

Und dann gibt es da noch das ortlose Internet. Und die jungen Leute, deren Hände nach Öl riechen und die zur Beruhigung der Nerven viel Zeit auf Ebay-Kleinanzeigen verbringen.

Auf einmal taucht ein Hof auf, von der Infrastruktur direkt an eine idyllische Landstraße gelegt, die aussieht, als würden dort Autowerbungen gedreht. Umgeben von Feuchtwiesen, Landschafts-Denkmälern, Wald und Wiesen und – hinter sieben Bergen – der A9.

Die nächstliegende an jene Städte koppelnde Bahnstrecke in Eisenberg hat man ungünstigerweise schon in den späten neunziger Jahren abgeschafft, weshalb sich die Stadt nun auf Wikipedia mit dem Titel auslobt, die größte Stadt Thüringens ohne Bahnhof zu sein. Aber es gibt eigene Fahrzeuge und Tankstellen und den Tramper-Daumen, der dank der German Autobahn auch ganz gut durch die Gegend kutschieren kann.

In einem verloren gegangen Mühlental liegt also nun dieses historische Gemäuer, ein festungsartiges, bunt gestückeltes Gemälde aus junger und alter Geschichte, umtost von harschen Winden und hinter den Hügeln sorgfältig vor dem Lärm der Autobahn versteckt. Jahrhundertealter Sandstein, und ein Innenhof, dem mit DDR-Beton-Platten die Luft abgedrückt wurde. Im Keller das alte Transportband, das Mühlenrad und ein Klettergerüst auf der Wiese hinter dem Haus.

Und dann dieser Haufen von Leuten, deren Hände nach Öl riechen und die sich entschlossen haben, den alten Gemäuern wieder Leben einzuhauchen. Ein Teil des Haufens kennt sich schon seit Ewigkeiten. Man hat sich zusammen in der Oldtimer-Restauration ausgebildet, Norddeutschland als zu schnöde befunden, oder zusammen zu Agrarpunk-Bands in Weimarer besetzten Häusern getanzt. Es tönen raue Worte und eine fast brutale Herzlichkeit, die mich jedes Mal aufs neue rührt. Nach lange gehegten und doch ganz spontanen Überlegungen ist dann also der erste Haufen-Kern kurzentschlossen in die Mitte von Nichts gezogen. Inzwischen sind einige dazu gekommen, wir zählen 13 auf einen Streich. Ein gestrandeter Maschinenwärter von einem internationalen Containerschiff, ein intellektueller Musiker aus Berlin, eine waschechte Pferdeflüsterin, die sich selbst niemals so bezeichnen würde… Die Biographien sind bunt gemischt.

Alle sind auf der Suche nach Wohnraum und Ruhe. Immer wieder dieser Begriff, Ruhe. Ruhe vor der Welt, vor dem Lärm. Abends der still sausende Wind und die Geräusche der ab und zu vorbei brausenden Autos. (Ich frage mich nach wie vor bei fast jedem: wo fährt es eigentlich hin?).

Dann ist da noch der Wunsch nach Nähe zur Natur. Der ist so unbändig selbstverständlich, dass er nicht mal benannt werden muss. Für Entfaltung eigener Ideen ist ebenfalls viel Platz, aber sie müssen besprochen, Räume verhandelt werden.

Am Anfang ging es um ganz grundlegende Infrastrukturen. Das Miteinander geprägt von Fahrzeugen, die zur Erschließung des Geländes nottun, ein Bagger gräbt sich in den schlammigen Boden, Schutt stapelt sich vor der Mauer aus dem 14. Jahrhundert, es herrscht ein rauer Ton und an den Abenden am Lagerfeuer tönt ein Sammelsurium aus Geschichten: von Nah und Fern, von provinziellen Abenteuerkäufen, alten Ganoven und umgenutzten Flugzeugen durch die ländliche Nacht. Der Grundton ist kritisch männlich.Man legt sich den Arm um die Schultern. Ab in den Badesee und zwischen durch eine Runde auf dem Motorrad. Das war der Anfang. Elektrik. Wasser, Lehm und Staub, und in der Abenddämmerung diese unglaublich gut duftenden Wiesen mit den Grillen, die wie verrückt herum zirpen.Man kann sich überhaupt nicht beherrschen vor lauter Freude über diese Schönheit.

Inzwischen hat sich Vieles getan. Einige Frauen sind zu dem Projekt dazugestoßen, und auf ein Mal geht es beim Plenum auch um die leisen Stimmen, die sich Gehör verschaffen müssen. Alle sollen mitreden und alle müssen an sich arbeiten. Beherrschung, Bedürfnisse abstecken. Eigene. Gemeinsame. Zerstreuung bieten hier nur jene weiten Wiesen, die unglaublich frische Luft und der abendliche Blick ins Lagerfeuer. Ein Mal die Woche geht es nach Eisenberg, wo anstelle des Bahnhofs ein weiteres Wohnprojekt „Küche für alle“ anbietet.

Ein WIR wächst, wo sich die Erfahrungen mehren. Schafe treiben bei strömendem Regen. Rätseln über die geschickteste Variante, selbst Brennholz zu produzieren. Und immer wieder der nächtliche Blick hin und her zwischen Lagerfeuer und Sternenhimmel. Ich notiere: Seit ich hier bin, denke ich wieder mehr über das Weltall und die Asteroiden nach. Aber back to ground zero: Im Grunde geht es an vielen Stellen um kollektive Selbstständigkeit ohne Ideologie. Und dann sind da noch die neuen Ideen, die erst noch gedeihen. Zum Beispiel die, den ehemaligen Speisesaal des Kinderferienlagers, dass hier zu DDR-Zeiten bestand, als einen vermietbaren Seminar-Raum zu nutzen, in dem Workshops angeboten werden könnten. Im Raum stehen auch verschiedene Werkstätten und eine kleine Hofbäckerei. Der Prozess der Zukunftsfindung steht am Anfang, und wir gehen ihn Schritt für Schritt, an gemeinsamen Sonntagen, an denen debattiert wird: über den finanziellen Unterbau für das Projekt, Kredite, den Einstieg ins Mietshäuser Syndikat oder die Möglichkeit einer Leih- und Schenk-Gemeinschaft? Mehr und mehr versuchen wir, uns zu organisieren, im Kleinen wie im Großen. Mein Gefühl ist, dass wir noch ganz am Anfang stehen in diesem Prozess.

Spannend bleibt auch, wie wir uns in dieser Region einbetten werden. Es wurden und werden Kontakte zu den hier draußen Wohnenden geknüpft. Da gibt es einen Biobauern Nach-Wende-Pionier; und da gibt es diese Dörfer etwas weiter weg, wo seit Oktober 2019 ein NPD-Plakat hängt, an dem sich niemand zu stören scheint.

Wie bei wohl jedem Grundstück, das sich auf ehemaligen DDR-Boden befindet, liegt auch hier reichlich Müll unter der schönen Erde vergraben. Um die historische Tanzlinde, die für uns alle schon eine Art Schutzherrin geworden ist, ragen Plastikfetzen aus dem Boden. Groll gilt dem Umgang mit Müll, wie er zu DDR-Zeiten gepflegt wurde. Heute vergisst uns der zeitgenössische Müllabfuhrdienst in dieser Randlage mit slapstick-artiger Verlässlichkeit jede zweite Woche.

Immer wieder muss ich an einen umgenutzten Schrottplatz in Südschweden denken, dessen Entwicklung Jahre gedauert hat und letztlich auf eine organische, einfache Art und Weise gelungen ist. Gemächlich und in stetigem Austausch haben sie entschieden, was in etwa beim real machbaren Equilibrium aus individuellen Wünschen und räumlicher Grundlage das Optimum darstellt. Ein Findungsprozess, der viel Ausdauer verlangt. Und es braucht Zeit, finde ich.

Hier beginnen sich nun an winterlichen Sonntagen Zettel und Plakate an den Wänden des alten Mühlenraums zu sammeln, während draußen der Wind um die Mauern saust. Es ist mächtig dunkel hier draußen. Selbstverständnis? Wie viel Hofarbeit ist unser Standard-Anspruch an alle hier Wohnenden? Wie kommen wir an Geld? Man kann darauf wetten, dass bei jedem dieser thematisch überschriebenen „Gemeindeversammlungen“ ganz unverhofft ein Thema zwischen den Zeilen auftaucht, mit dem keiner gerechnet hat. Selbst mich überrascht es, was es alles zu besprechen gibt.

Mittendrin müssen wir raus um neues Holz zu machen, doch ich mag ihn, den beißend scharfen Kontrast zwischen den utopischen Träumen von dem, was werden kann und dem Kreischen der Kreissäge und dem Duft des gespalteten Holzscheites, das wie eine Kirschmarmelade riecht.

Auf irgendeine Weise ist das Ganze bestechend einfach: es gelingt immer besser, wenn es funktionierende Strukturen und Absprachen gibt, denn die Energie der oder des Einzelnen ist endlich, nach der zig-tausendsten Initiative zu Thema X geht einem schon Mal der Saft aus.

Umso herausfordernder, wenn alle gleichzeitig noch um ihre eigenen Wege, Geldbeutel, Ausbildungen und Gesundheiten kämpfen. Urteilen ist Gift. Die Welt draußen ist auch nicht unbedingt rosig, aber genau deswegen sind wir ja hier.

Gemeinsam sind wir stark. Es ist im Grunde wirklich ganz einfach.

Auf das uns das gelingt: ein ruhiges, nachhaltiges Projekt, bei dem alle mitreden können und in dem alle Raum finden, zu erschaffen – mit so viel Öffentlichkeit, wie sie uns gut tut. Das wäre schon eine ordentliche Menge an gutem Leben.