Umgebaute Geschichte

Die Königin am Mittelmeer verliert ihr Gesicht

Ich sitze in einem gelb verspiegelten Klotz aus Stein und Glas und Mückennetzen und blicke auf eine große Fläche weißgrau schraffierten Betons. Ungleiche Spiegelung dessen, worin ich mich befinde. Hinter der grob verputzten Fassade geht es zwei Stockwerke weiter nach oben und 12 nach unten. Geflieste Innenräume, Plastikgeschirr mit Blumen darauf, Mobiliar, welches der Hitze trotzt und Ornamentik, von der mir beim Hinsehen schwindlig wird. Um den Himmel zu sehen, muss ich mich weit aus dem Fenster recken, aber es tut jedes Mal gut, und wenn ich aufwache, höre ich morgens Vögel zwitschern, die sich anscheinend zwischen den Zementkanten eingenistet haben. Wohnzellen, Ausblicks-Anbauten in Form von Balkonen oder Loggien, überall Stimmen – und Wäsche, die im Wind flattert. Ein Korb wird von unsichtbarer Hand zu Boden gelassen, darin etwas Brot, Wasser in Plasteflaschen oder ein Schlüssel. Am Boden des Wohnturms, im Foyer haust unter der Treppe der Pförtner, der Gebäudeinfrastruktur und darin Wohnende betreut. Ein freundlicher Gruß, wenn ich das Haus verlasse und wenn ich wiederkomme. Nachts wie Tags wacht das leise Surren der Ventilatoren über die Luftzirkulation der Räume und manchmal spielt gegen 00.30 jemand im Haus gegenüber eine Stunde lang Bach und Chopin.

Ein Zimmer der Wohnung ist jetzt mit einer Linie aus Pfeffer und Essig versiegelt, habe mir dort eine Jagd mit einer ebenso riesigen wie listigen Kakerlake geliefert, die sich nun dazu entschlossen hat, sich unter dem aufwendig verschnörkelten arabischen Doppelbett zu verstecken. Auf der Straße erklingt der Ruf des Schrotthändlers, der mit einem Eselskarren tagein, tagaus morgens die Straßen durchsiebt und alles einsammelt, was nicht mehr gebraucht wird. Womöglich ein leichtes Unterfangen in einer Stadt, deren Entsorgungssystem ächzt und fortwährend scheitert. Müll begegnet mir überall, nur nicht in Containern: hingeworfen am Rand der Tram -Schienen, die sich als gerade Orientierungslinie parallel zum Meer die Stadt entlang ziehen, platt gefahren auf dem Asphalt, und auch sonst in jeder Ecke, die Platz für Plastikhaufen bietet.

Will ich mich bewegen, geht es erst einige Stockwerke nach unten, per Fahrstuhl oder zu Fuß. Dann, an dem Ladengeschäft vorbei, vor dem eine Wand aus Käfigen voller eingesperrter Haustiere am Straßenrand steht, schiebe ich mich aufmerksam tänzelnd zwischen Menschen, Autos, Händlern und Motorrädern hindurch bis zur Hafenpromenade Corniche, einer Art nostalgisch aufgeladenen Schlagader, die niemals ruht. Ich sehe, wie die Leute, am Straßenrand aufgereiht, geschickt die kleinen Mikrobusse, die hier arabisch „Projekt“ genannt werden, anzuhalten. Wenn es mir dann gelingt, die vierspurige Straße zu überqueren und ich in einen anderen Stadtteil der 7- Millionen-Stadt fahren möchte, muss ich anwenden, was ich zuvor beobachtet habe: Das Mikrobusalphabet. Am Bordstein stehen und mit der Hand wedeln. Stadtviertel, Straßen und Plätze haben einen Handzeichencode. Im stummen Austausch mit den Fahrern der Blechbüchsen-artigen Vehikel wird so die potentielle Mitfahrt ausgehandelt. Spiegelt der Fahrer das gestikulierte Zeichen, hat man den Richtigen erwischt. Als ich dann einsteige und mein Geld von Passagier zu Passagierin nach vorne reiche, hat der Mann am Steuer nicht genug Wechselgeld dabei. Er hält es für gewöhnlich beim Lenken in der linken Hand, ein Bündel Scheine und Münzen. Es handelt sich um 50 Piaster, umgerechnet circa 2,5 Cent. Kein Problem, sage ich, lass stecken, winke ab. Kurze Zeit später beginnt der Fahrer wild zu hupen und signalisiert einem Mikrobus auf einer der Spuren neben uns, näher ran zu fahren. Er reicht der Passagierin auf dem Beifahrersitz eine Münze, sie wiederum reicht sie, während wir zur Rushhour auf dieser turbulenten Schnellstraße fahren, aus dem Fenster, und der andere Fahrer wechselt den minimalen Geldbetrag. Dann erst begreife ich, dass es darum geht, mir das Rückgeld geben zu können. Ich muss grinsen, nehme nun gezwungenermaßen und dankend die 2,5 Cent, steige aus, und stürze mich ins städtische Treiben.

Alles in Bewegung, von einem Konzert aus hupenden Autos erfüllt. Man hupt als Warnung, als Selbstbehauptung, als Aufforderung, als Dank oder einfach nur, weil man den Klang seiner Hupe gern mag, ihn vielleicht eine halbe Stunde lang nicht gehört hat und findet, es wäre höchste Zeit, ihn wieder zu hören. Alle schieben sich irgendwie aneinander vorbei, aber dabei wird aufeinander aufgepasst. Kleine Hinweise, Handzeichen, ein Mann, der einen herausragenden Zuckerrohrstab auf einem vorbeifahrenden Pickup im Vorübergehen wieder auf die Ladefläche schiebt, damit sich niemand verletzt.

Es ist überaus großstädtisch hier, außerdem laut, elend verstaubt, aber wir sind ja schließlich auch am Rand einer enormen Wüste. Hin und wieder eine lindernde Brise vom Meer herbei geweht, Verkehr als Dauerzustand, zerbeulte Karren mischen sich mit täglich gestriegelten SUV.

Jedoch: auf den ersten Blick, scheint die kosmopolitische Atmosphäre der Stadt sich – zumindest in meinem Viertel, El – Ibrahimia – gänzlich verflüchtigt zu haben, aber ich täusche mich. Dies ist allenfalls ein oberflächlicher Eindruck. Der Schrotthändler mit seinem Eselskarren schreit „Veccia, Veccia!“, italienisch für „alt“, obwohl er mit Italien wahrscheinlich nichts am Hut hat. Das französische Blumengeschäft auf der ältesten Straße der Stadt, die griechischen Lettern an den Häusern am Hafen, der Pförtner, der mich auf den „Ascencir“ hinweist, und der Gated-Community-artige, riesige Trainingspark „Sporting“, eine grüne Insel, mit Glasscherben -gespickten Mauern umsäumt, inmitten der Betonmetropole – alle diese Orte singen ein leises Lied, was irgendwo zwischen Verkehrstrubel und unterirdischen Wasserläufen ruhelos durch die Stadt rauscht.

Die Zeitlichkeit dieser riesigen Stadt wird durchlässig, wenn man ihr lauscht. Es scheint, es ist vor allem die Sprache, in der sich die kosmopolitische Geschichte von Al -Iskandariyya noch zeigt, stolz und handgeschrieben, auf verblassenden Schrifttafeln in Arabisch und Französisch. Weil man Sprache zwar verändern, gar verbieten, aber nicht abreißen kann, so wie es vielen geschichtsträchtigen Bauten in den letzten Jahren geschah.

Die alten Orte sind rar geworden. Lebendig sind sie nach wie vor in Form von Kaffeehäusern, in denen man sich geschickt anstellen muss, um einen Kaffee ohne Zucker zu ergattern, und die oft bis tief in die Nacht allerlei Volk versammeln. Da ist das Bursa -Al-Tugareya, was auf Deutsch Handelsbörse heißt.

Mit einem europäisch gerichteten Blick sieht man dem schlichten Café nicht an, was in ihm vorgeht. Schlichte braune Holztische, wild im Raum verteilt, Teeflecken auf den Plastiktischdecken, Kippen -Stummel auf dem Boden, ein völlig leerer Tresen aus Holz, der stumm den Eingang bekleidet.

Entgegen des an anderer Stelle durchaus wahren Klischees, dass sich in Ägypten Ornamente und Schnörkel überaus großer Beliebtheit erfreuen, hat man hier gänzlich auf alles unnötige Dekor und überhaupt alles, was nicht unbedingt notwendig ist, verzichtet. Hier werden Geschäfte getätigt, Verträge geschlossen. Draußen, auf dem Gehsteig an der Corniche, der brausenden Hafenstraße Alexandrias, treffen sich Kunstschaffende, Studierende, sogenannte Intellektuelle.

Üblicherweise versuche ich die DNA einer Stadt an zweierlei Dingen zunächst auszulesen – an den Menschen, die in ihr wohnen, und an den Gebäuden, die sie formen, Wege und Grenzen vorgeben, Möglichkeitsräume in Baustoffen manifestieren. Alexandria gibt sich geheimnisvoll.

Einstmals und schon seit ihrer Gründung in der Antike war die Stadt Wohn- und Arbeitsort von Menschen aus aller Welt. Ägypter, Griechen, Franzosen, Armenier, Italiener, Deutsche, Briten… Die Vielfalt von Menschen die hier gemeinsam lebten, muss enorm gewesen sein. Grund dafür waren sowohl der Status der Stadt als Hafen- und Handelsmetropole, als auch ihre spätere Vereinnahmung durch verschiedene koloniale Projekte, wie die Wissenschaftsmission der gescheiterten Napoleon -Invasion um 1800 und die jahrzehntelange Einflusssphäre der Briten im 19. und 20. Jahrhundert, die Angehörige verschiedener Nationalitäten in die Stadt zog.
Heute zeigt sich die Stadt – vom Rand aus betrachtet – zunächst als brutale und dichte Häufung, man muss sich durch die engen Häuserschluchten schieben, um die Vielseitigkeit der Stadt zu begreifen. Zahlreiche Gebäude der Belle Epoque, deren Räume von Schriftstellern wie Lawrence Durell beschritten wurden – Palmengesäumte Villen, mit mattgrünen Fensterläden, Medusen -Reliefen und kunstvoll verzierten Balkonen stehen eingestaubt und müde zwischen hohen Wohnblöcken, die aussehen, als wären sie im Computerprogramm Archicad per Copy+Paste aufeinandergestapelt worden. Verschiedene Bauabschnitte durch hastige Kanten oder Brocken aus Putz gekennzeichnet, als hätte man die ein oder andere unschöne Kante aus Schnelligkeitsgründen einfach in Kauf genommen.

Die alten Villen sehen so erschöpft aus, und so still, als wüssten sie, was ihnen blüht. Denn in den letzten Jahren durchfegt ein Wüstensturm aus Abrissmaßnahmen die Stadt.

Die Momente, in denen man beim Stadtspaziergang über ein Haus stolpert, dass einem nicht wegen seiner Höhe, sondern wegen der Geschichte, die aus seinen Mauern spricht, atemlos macht, werden rar. Die Menschen, die in den alten Gebäuden leben, zahlen oftmals Mieten, die sich seit 50 Jahren nicht geändert haben, zum Teil Beträge von unter einem Euro pro Monat. So erliegen die stolzen Gemäuer nicht selten dem Fortschreiten der Zeit. Bröckeln hinweg, weil niemand die Mieten anpasst, und kein Geld für Sanierungen da ist, bis jedem der Abriss auch ganz augenscheinlich als einziger Ausweg erscheint – denn ein fortgeschrittener Verfall mindert auch den Protest der Bevölkerung gegen einen Abriss.

Wenn denkmalgeschützte Häuser Platz für neue machen sollen, werden sie – falls nötig – kurzfristig aus den entsprechenden Listen gestrichen und der Abriss kann beginnen. Und kaum hat man sich versehen, ist noch eine Villa einem Hochhaus gewichen, das das Sonnenlicht schluckt, aber jede Menge Familien in sich unterbringen kann.

95% von Ägypten besteht aus Wüste, diese Information ist in aller Munde. Das bedeutet, dass der Andrang auf wasserhaltige Gebiete und dementsprechende Infrastrukturen enorm ist.

Alexandria, zweitgrößte Stadt des Landes, liegt eingeklemmt zwischen Süßwasserseen und Mittelmeer auf einem schmalen, länglichen Streifen Land. Wer kann es einer in solcher Topographie gefangenen Stadt verdenken, dass sie in die Höhe wachsen will? Die Langgezogenheit, die Gedehntheit der Metropole ist beim alltäglichen Navigieren spürbar. Die Verkehrslinien, die parallel zur Meeresküste verlaufen, bestimmen Fahrrouten der Mikrobusse und Taxen. Sie bestimmen auch den täglichen Schaukelrhythmus der Tram, die auf der zweiten Magistrale langsam rasselnd Viertel um Viertel durchreist. Und überall drängen sich die Häuser, wölben sich verzierte Balkone übereinander, klopft am Morgen ein Bauarbeiter ein neues Gerüst zurecht. Diese Enge, so kommt es mir vor, ist nur tragbar, weil die Leute zum Mittelmeer gehen können. Flink die Häuserschluchten durcheilen, den Verkehr durchbrechen und dann die Sonne, die Corniche, die Küste. Sehen, wie sich das rauschende Blau dem Horizont entgegen streckt. Es muss schon manch einem den Verstand gerettet haben, sich nach einer städtischen Odyssee zum Sonnenuntergang auf die am Meer aufeinandergestapelten Betonblöcke, zwischen denen kunterbunter Müll klemmt, zu setzen und das salzige Rauschen einzusaugen, das ihm zeitlos entgegenschwappt.

Eines Abends stehe ich auf einem Balkon in einem der High-Rise- Klötze ganz nah an der Corniche. In diesem Viertel sehen alle Häuser gleich aus. Eine Armee aus graubraunen Punkthochhäusern, die sich von Wäscheleinen ächzend dem Meer entgegen stellen. Dazwischen blüht und grünt es. Nahla, die hier geboren wurde, sagt mir, als wir gemeinsam den Ausblick genießen, dass es in Alexandria durchaus viel Leerstand gäbe. Ich runzle die Stirn. Das passt überhaupt nicht zu dem Antlitz, dass die Stadt mir bietet, so eng und laut und dynamisch, wie sich mich jeden Morgen begrüßt. Also rauszoomen. Kairo, das ist ja eigentlich die Königin am Nil, die umso mächtigere Metropole – Alexandria fristet seit Jahrhunderten ein Dasein an zweiter Stelle. Niedrigeres Ansehen, niedrigere Löhne, weniger Fame. Dabei ist das hier die Stadt, in der einst der Leuchtturm von Pharos stand; in der auch heute noch zwei geschickt ausgerichtete Straßen die Stadtanlegung durch Alexander den Großen im Jahr 331 vor Christus bezeugen. Noch immer bewegen sich daher Einheimische, Touristen und Geschäftsreisende in der Altstadt – mitunter ohne es zu wissen – auf der alten Straße zwischen Mond- und Sonnentor, die Straße zählt bis heute zu den wichtigsten der Stadt. Trotz alledem – Alex ist die Number 2. Und weil Kairo ebenfalls aus allen Nähten quillt, und die Landbevölkerung in Hoffnung auf ein besseres Leben in die Städte strömen, haben sich die Städter des Nildeltas Alexandria als Sommerresidenz auserkoren. Die Währung ist schwach, der Platz begrenzt, und so wird auch hier Wohnraum zu Ware und Rentenersatz. – Die wohlhabende ägyptische Familie legt sich eine Zweit-Residenz in der Hafenstadt zu. Unbelebte Wohnungen, die besessen aber nicht benutzt werden, stehen leer, während es in anderen Stadtvierteln aus allen Ecken und Fenstern und Schächten murmelt und rauscht und lacht, sich Wohnzelle an Wohnzelle schmiegt. Privatsphäre als Ausnahmezustand. Ich steige hinauf aufs Dach. 13 Stockwerke unter mir, ein Wald von Satellitenschüsseln umgibt mich. Ich finde ein kleines Häuschen, dass auf das Flachdach aufgesetzt wurde, es erzeugt eine Art toten Winkel, uneinsehbar von noch höher gelegenen Balkonen aus, und wähne mich, ganz kurz nur, allein.

An einem Freitag im September, als die Hitze zu einer milden Wärme geworden ist, und zur Abendstunde duftender Yasmin und Flamboyant den fahlen Dunst der Autos übertrumpfen, als die Stadt sich in einen ruhigere Takt zu begeben scheint, ein langsames Ausatmen nach einem langen Sommer, besuche ich das Atelier D’Alexandrie.

Es ist eines dieser alten, eleganten Häuser, die einfach auftauchen, wenn man um die richtige Ecke biegt. Am Eingang ein riesiger steinerner Fuß aus Granit. Palmen umgeben die holde Villa, dazwischen stehen Blumentöpfe und bemalte Schaufensterjeanshosen. Innen empfangen mich holzvertäfelte Schwermut, eine Menge Stühle, ein brummender, Bonbonfarben erzeugender Beamer , und eine große Gruppe alter Damen und Herren, die sich zusammen gefunden haben, um einen Film über das Verschwinden der alten Stadt zu sehen. Zwischen Publikum und Grandeur sitzt der Regisseur. Nachdem der Film vorbei ist, wird über das Gesehene gesprochen. Dabei geht es nicht nur um die Montage oder die Kameraführung, sondern um bauliche Details und Wohnorte von Schriftstellern, Töchtern und Söhnen der Stadt. Die anwesende Generation hat dieses verblasste Alexandria noch erlebt, denke ich mir. Ein kollektives Erinnern summt durch den Saal. Es ist der große Schmerz der Stadt, eine Melancholie, der die Wände wegbrechen.

Die aktuelle Situation des Landes macht neue Hoffnung rar, zu dünn ist das Gebälk, mit dem der Alltag zusammenhält, zu nah der Gedanke daran, dass die Zeiten morgen noch düsterer werden könnten.

Gleichzeitig tauchen auch im gegenwärtigen Stadtbild noch unentdeckte Altertümer aus dem Sand auf, neue Ausgrabungen offenbaren antike Gemäuer. In einem dicht besiedelten Wohn- und Marktviertel, wo mir auf der Straße mehrere Gruppen Trauernder entgegen laufen, die in Richtung des Friedhofs strömen, befinden sich nicht nur neue, sondern auch über zweitausend Jahre alte, unterirdische Gräber – die Katakomben. Dort mischen sich altägyptische, hellenistische und römische Baukunst. Entdeckt wurden die Grabkammern durch die Kraft des Zufalls: 1900 war ein Händler mit seinem Esel unterwegs über eine sandige Fläche, als plötzlich der Esel im Boden verschwand – er war in den Katakomben-Schacht gefallen.

Es ist Teil des zarten, brutalen, staubigen Zaubers der Stadt, ein geheimnisvoller Zauber, der auch den Nussverkäufer mit seiner verspiegelten Schatztruhe auf der Schulter umweht, wenn er am Abend die Corniche entlang schreitet. Ich laufe in Richtung Altstadt, hier haben die Straßen noch mehr Raum zum Atmen, recken sich die Häuser nicht ganz so keck empor, wie in vielen anderen Vierteln, und schlüpfe zwischen der Softeis-Maschine und der Saftbar in einen dunklen Häuserspalt. Plötzlich stehe ich in einem Café, dass zum Himmel hin von einem eisernen, feingliedrigen Kuppeldach geziert wird. Noch habe ich das Gefühl, daß ich jederzeit auf einen Fleck Geschichte stoßen kann, wenn ich nur lang genug herumlaufe. Die Schule der Borromäerinnen, das Atelie d’Alexandrie oder das deutsche Seefahrerheim.Versteckte Gebäude zwischen unzähligen High-Rises, auf Bodenniveau gesäumt von Getümmel und Verkehr. Aber wie es aussieht, sind selbst diese Erkundungsgänge bedroht, denn die Bauten schwinden, Tag für Tag verbreitete sich Kunde darüber. Auf Facebook kommentieren die AlexandrinerInnen traurig das Foto eines halb abgerissenen Prachtbaus mit einem weinenden Smiley.

Als ich zum Meer laufe, komme ich an einer Baulücke vorbei, einer waschechten Brachfläche, direkt an der Hafenstraße. Ich verweile ein wenig und staunte über soviel Sicht-Raum. Dann gehe ich weiter, schreite vorsichtig aber zügig über die Corniche, und setze mich auf die steinerne Mauer, die die blaue Weite überblickt. Hinter mir läuft der Nussverkäufer seine tägliche Route, jemand verkauft in kleinen Becherchen heißen, zuckersüßen Schwarztee. Unter mir schwappt das Mittelmeer salzig und trotzig gegen die Betonklötze, die die Stadt vor der Kraft des großen Wassers schützen sollen. Eine kunterbunte Kette aus vielfarbigem Plastik schwimmt auf den weiß schäumenden Wellen und schmückt sie mahnend, von der Seite weht der Duft von geröstetem Mais zu mir herüber. Ich lasse meinen Blick über den Osthafen schweifen und denke daran, dass unter dieser Masse aus Wasser und Dreck verborgen, noch immer antike Sphinxen und Pharaonen-Skulpturen auf dem Meeresboden stehen. Sie bezeugen stolz und stumm die Geschichte einer Stadt , deren Architekturen mehr und mehr von einer allzu hastigen und konfliktreichen Gegenwart zu Boden gerissen werden.